Du bist Deutschland!
Wir sind das Volk, riefen einst die Frustrierten in Leipzig und warfen nicht nur Reissäcke, sondern Mauern um. Inzwischen wissen wir jedoch aus zuverlässiger Quelle, dass weder die Frustrierten, noch sonst jemand das Volk ist. Nein, wir sind nicht das Volk! Wir sind Papst! Eine lyrischere Paraphrase geistigen Vakuums lässt sich nur schwer erdichten und erdenken.
Doch was wir sind, ist inzwischen Geschichte. Das Ich wird wieder groß geschrieben. Ganz groß sogar. Ich bin 357.026,55 Quadratmeter groß und die multipelste Persönlichkeit der Welt. Ich bin jetzt 82 Millionen! Ich bin der Schmetterling, der mit seinen Flügeln schlägt, einen Reissack umwirft und einen Taifun entfacht, der den Baum ausreißt, und dann merkt, dass er doch selbst dieser Baum ist. Ich bin Deutschland. Ich feure mich an, wenn ich von mir selbst an die Wand gedrängt dastehe und blutige Steaks auf einem stinkenden Grill umdrehe.
Sie alle haben es mir gesagt, alle Medienmillionäre Deutschlands: die Maischberger, Anne Will, Mr. Tagesthemen und Reich-Ranicki als Beweise dafür, dass Integrität gestern war, Olli Kahn, eine Tatortkommissarin, ein Tatortkommissar, ein maskierter Chirurg als Vertreter der Chefärzte Deutschlands, eine Fahrradkurierin als Vorstandsvorsitzende der Ich-AGs, ein Quotenschwarzer, eine Quotenossi, der unvermeidliche Quoten-Jauch, der noch unvermeidlichere Quotenzyniker Schmidt, ein Quotenrapper, ein Quotenbehinderter, ein Quotenschriftsteller und der nette Dirigent von der Waterkant. Habe ich irgendeinen vergessen, der die Peinlichkeit noch vermehren könnte.
Alle haben sich unter dem Logo eines weglaufenden Männchens versammelt, dass vor so viel nationaler Erbauung das Grausen bekommen hat und ganz schnell rübermacht ins Ausland. Ich bin Deutschland, du bist Deutschland. Wir sind 82 Millionen mal 82 Millionen multiple Persönlichkeiten, gefangen in einem multimedialen Alptraum des kommunikativ-industriellen Komplexes. Hätte ich doch bloß die richtige Pille genommen!
Nein, ich habe mir nicht Zugang zu illegalen, bewusstseinsverändernden Drogen verschafft, all das fand ich in dem Sedativum der Unterschichten, ausgedacht von 20 Medienunternehmen. Da sind sie alle versammelt, die Dealer der schleichenden Volksverdummung, die Profiteure der Globalisierung und reden uns ein, dass wir den Laden zusammenhalten und alles gut wird, wenn wir nur die richtige Droge schlucken.
Ob sich diese satten Vorzeigeprominenten wirklich wünschen, dass wir einen Taifun auslösen und ihre Reissäcke umwerfen? Sollen wir ihnen mit unserem Willen wirklich einmal Feuer unterm Hintern machen? Warten sie wirklich auf eine Tat, die einen Sturm heraufbeschwört, der das Mittelmaß Deutschlands von den Bildschirmen fegt? Diese hoch bezahlten Sprechblasen wollen uns doch nicht weismachen, dass sie den Unsinn auch noch glauben, den ihnen junge und dynamische Werbetexter als Manifest ins Plappermäulchen gelegt haben! Oder dass wir glauben, sie glaubten das! Obwohl ich dem Großteil dieser Leute mittlerweile alles zutraue.
Die wahrscheinlich vom Juniortexter der betreuenden Werbeagentur verfassten Ergebenheitsadressen auf der Website der Initiative wollen uns sogar glauben machen, dass es unter den 82 Millionen zahllose informelle Deppen gibt, die diesen Schmarren tatsächlich ernst nehmen. Aber vielleicht gibt es die ja wirklich? Es muss sie geben, wer würde sich sonst am Nachmittag die Telenovela geben?
Doch ich vergaß, ich bin ja 82 Millionen. Ich glotz’ 82 Millionen Mal TV, während ich 82 Millionen Chipstüten umwerfe, die einen Erdrutsch an den Aktienmärkten auslösen und die Bierkonzerne in den Ruin treibt. Ich bin 82 Millionen Mal stupider Stumpfsinn!
Wenn es in den Hirnen der 82 Millionen nicht so still wäre, könnte ich es mit ihnen kaum aushalten. Aber mit 82 Millionen sprachlosen Dichtern und Denkern im eigenen Oberstübchen lässt es sich gut leben.
Doch Vorsicht! Heute bin ich bloß Deutschland, aber morgen die ganze Welt! Wäre ich nicht Deutschland, sondern Ausland (du bist sechseinhalb Milliarden!), würde ich ganz schnell um diese Abderitengrube einen meterhohen Zaun bauen, damit da ja keiner herauskriechen kann!