Idomeneo? Wer ist das denn?
Wie einen Ladenhüter hat Kirsten Harms die Opera seria von Wolfgang Amadeus Mozart auf der Internetseite der Deutschen Oper angeboten. In der Reihe »Klassik is Cool!«, mit der man der Jugend versucht, die Oper nahezubringen, wurde sie für die Klasse 10 empfohlen. Erinnern Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, an Ihre Opernerfahrungen während der Schulzeit? Nur mit Mühe konnte die Lautsprecheranlage das Gedröhne übertönen, das wir veranstalteten, um uns über die schrägen Kostüme lustig zu machen. Oper war nicht cool, sondern der Inbegriff der Verstaubtheit und damit bürgerliche Schulkultur wie sie im Buche steht. »Idome…wie?« hätten wir gefragt, wenn der Klassenlehrer uns eröffnet hätte, in welchem Stück wir uns diesmal hätten langweilen dürfen. Und die Berliner Schüler der Klasse 10, auf deren Lehrplan die Oper wie ein Menetekel der Öde gestanden haben dürfte, werden sich dies bestimmt auch gefragt haben. Selbst die Ankündigung, dass am Ende Köpfe rollen, dürfte den heutigen Schülern bloß ein müdes Lächeln entlockt haben. Nun wissen wir es alle besser. Idomeneo ist richtig cool! So cool, dass das verstaubte Stück Bildungskultur sogar vom Spielplan genommen wird, weil die Inszenierung die religiösen Gefühle der ewigen Strohpuppenverbrenner eventuell, vielleicht und unter Umständen verletzen könnte. Hätte uns jemand gesagt, wir gehen jetzt in eine Mozart-Oper, die so cool ist, dass sie Selbstmordattentäter zu einem Anschlag auf das Opernhaus herausfordern könnte, wir wären wahrscheinlich erstmals mit großen Erwartungen in die Oper gegangen. Vermutlich wären die Erwartungen enttäuscht worden. Körting, der kuriose Innensenator Berlins, musste ja auch bereits zugeben, dass es nie eine konkrete Anschlagsdrohung gegeben habe.
Dennoch hat der Kniefall in Berlin eins gezeigt. Kultur ist mehr als ein müdes Kaffeekränzchen mit Kirsten Harms! Selbst eine harmlose Mozart-Oper, die ursprünglich für den Münchener Karneval komponiert wurde, enthält für manche Zeitgenossen noch so viel Sprengstoff, dass sie über 200 Jahre nach ihrer Uraufführung vom Spielplan genommen werden muss.
Die Freiheit der Kunst ist keine Selbstverständlichkeit! Sie ist ein Kind der Aufklärung, die sich Europa bitter erkämpfen musste. Und gegen amerikanische Kreationisten, islamische Fundamentalisten sowie ein halbes Dutzend anderer Despotien, darunter einen Papst, der Gotteslästerung unter Strafe stellen will, und einen CSU-Fraktionschef Herrmann, der meint, dass Neuenfels Inszenierung »psychische Gewalt gegenüber vielen Gläubigen« ausübe, werden wir diese Freiheit nicht mit kulturellen Kaffeekränzchen oder schulischen Zwangsbesuchen in der Oper verteidigen können. Die Kunst ist die einzig wirklich wirksame Waffe im Kampf gegen den Terror. Die Kunst tötet keine Menschen. Sie sorgt für mehr Licht in dunklen Köpfen auch in unseren eigenen Köpfen, in denen sich schon viel zu lange ein satter selbstzufriedener Schatten breit gemacht hat. Aufklärung ist keine abzuhakende Position unter vielen auf dem Lehrplan des Geschichtsunterrichts. Die Aufklärung ist kein netter Firlefanz aus dem 18. Jahrhundert. Sie ist eine Sysiphusaufgabe, zu der es auch heute noch nur eine Alternative gibt: Obskurantismus und Terror. Und solange es noch Leute gibt, die in der europäischen Verfassung einen Gottesbezug verankern wollen, muss man feststellen, dass wir uns mit dem schweren Stein gerade erst auf den mühsamen Weg nach oben gemacht haben.
Doch es gibt Schlimmeres als CSU-Fraktionschefs, z. B. die Intendanten des Seniorensenders ARD, die den Film »Wut« abgesetzt, ins Nachtprogramm verschoben und damit die Chance vergeben haben, das Durchschnittsalter ihrer Zuschauer einmal deutlich zu senken. Und das alles bloß, weil der Realismus des Films nicht politisch korrekt daherkam. Da denkt man unwillkürlich an kulturelle Kaffeekränzchen und schulische Zwangsbesuche in der Oper.