Prekariat, Kaloriat, Unterschicht
Wenn die Politiker bei der Lösung von Problemen nur halb so viel Energie aufbrächten, wie ihre Forschungsinstitute aufwenden, um die Arbeitslosen und HartzIV-Empfänger mit einem möglichst griffigen Etikett zu stigmatisieren, dann gäbe es ganz sicher kein Prekariat, kein cholesteringeiles Kaloriat und auch keine debile Unterschicht. Allerdings wären die Forschungsinstitute arbeitslos.
Nun ist die Ursache der Misere also ausgemacht. Die Unterschicht ist selbst Schuld, weil sie in ihrer Verblödung lieber vor dem Fernseher versumpft, als sich in eigener Verantwortung zu dringend gesuchten Ingenieuren fortbilden zu lassen. BILD statt Bildung! So einfach ist das.
In einem wohlregierten Lande ist es in der Regel Aufgabe des Bildungssystems, die dank Privatfernsehen und öffentlich-rechtlich finanzierten GEZ-Müll galoppierende Verblödung durch eine gute Schulausbildung auszugleichen. Bei uns ist das bekanntlich anders. Generationen von Schulabgängern geistern als Bildungszombies in unserer Wissensgesellschaft herum. Für gut bezahlte Arbeit zu dumm und für Hilfsarbeiten zu teuer kreisen sie zwischen Arbeitsagentur und Sozialamt hin und her.
Aber jetzt haben sich SPD und CDU/CSU ganz fest vorgenommen, daran etwas zu ändern. Nur woran etwas ändern? Am Bildungssystem? In den letzten 40 Jahren hat sich in deutschen Schulen jedenfalls nie etwas zum Besseren gewendet. Fast hat man den Eindruck, dass deutsche Bildungspolitiker, sobald sie an die Macht kommen, es als ihr Lebenswerk betrachten, innerhalb einer Legislaturperiode die vollständige Verblödung aller Deutschen zu verwirklichen. Und Bildungspolitiker wissen, wie man erfolgreich Politik macht.
Wenn es um die Bildung geht, gab es immer schon eine Große Koalition. Der 30-jährige Schulkrieg von CDU/CSU und SPD — Gesamtschule hin, Kopfnoten her — ist doch bloß ein Schaukampf. In Wirklichkeit marschieren sie bloß getrennt. Schlagen tun sie gemeinsam! Während CDU/CSU alles tun, um der Unterschicht im dreigliedrigen Schulsystem den sozialen Aufstieg durch einen antisozialistischen Schutzwall zu verbauen, hat sich die SPD darauf spezialisiert, die letzten Bildungswütigen mit einer Zwangsjacke aus Kuschel-Pädagogik und schulischer Nivellierung ruhig zu stellen. Der Erfolg ist verblüffend total! Die, die draußen bleiben sollen, bleiben dank CDU/CSU draußen. Und die wenigen, die im öffentlichen Bildungssektor trotz allem Erfolg haben, werden durch die solide Halbbildung der SPD immerhin aus der internationalen Elite wirksam ausgeschlossen. So bleiben die Kinder der Reichen erst in ihren Privatschulen und dann in den Vorstandsetage unter sich. Und die Große Koalition ist der beste Garant dafür, dass dies auch so bleibt.
Allerdings muss man sich eine Unterschicht auch leisten können. Man muss selbst als Vorständler erst einmal das Geld für eine Villa in einer von einem Wachdienst bewachten Reichensiedlung haben, damit man möglichst weit weg von den Beton-Baracken der Unterschicht ungestört leben kann. Ist es da nicht verständlich, dass die Vorständler ihre Millionen-Bezüge in den letzten Jahren vervielfacht haben? Auch wenn das heutige Prekariat, anders als die Töchter und Söhne des Bürgertums in den 70er Jahren, dazu tendiert, Linke und Ausländer statt Vorstandsvorsitzende zu ermorden. Die teuren Alarmanlagen, der Wachdienst und natürlich die teuren Privatlehrer für die zukünftige Vorstandsgeneration — all das will bezahlt werden. Und da man nichts geschenkt bekommt, muss man es wohl irgendjemandem stehlen und wenn es die eigenen Aktionäre und Mitarbeiter sind.
Früher nannte man jemanden, der wenig verdiente, eine geringe Schulbildung besaß und auch keine Lust hatte, sich fortzubilden, einen Proleten. Alle Proleten zusammen, waren das Proletariat. Irgendwann Mitte des vorletzten Jahrhunderts entschied sich das Proletariat, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, und so wurde die Arbeiterbewegung mit ihren eigenen Bildungsinstituten und — ja Sie lachen — die SPD gegründet.
Heute wird mit ein paar Millionen werbewirksam in Bayern und Baden-Württemberg Exzellenz gefördert. Die Milliarden aber, mit denen die Verblödung vorangetrieben wird, fließen still und stetig weiter. Wir können uns also auf weitere sprachliche Neologismen zur Umschreibung des deutschen Elends gefasst machen. Das ist ja auch viel interessanter, als sich in der Welt umzuschauen und das beste Schulsystem einfach eins zu eins in Deutschland zu übernehmen. Wir sind ja schließlich keine Chinesen, die alles kopieren. Unsere Misere ist ein echtes Original!