Dienst nach Vorschrift
Ein Schüler aus Köln hat sich umgebracht. Nach einem Verhör durch die Polizei warf er sich vor eine Straßenbahn. Er hatte mit einem Freund einen Amoklauf oder wie es im Deutsch der Psychologen heißt einen ›erweiterten Selbstmord‹ an seinem Gymnasium geplant. Nun lamentieren sie wieder: die Bildungspolitiker, die Psychologen, die Experten.
Die Polizei posaunte am Tag des Selbstmords in ihrer Presseerklärung eine Heldentat hinaus: ein Amoklauf, ein Massaker war verhindert worden. Doch dann fand man bei einer Hausdurchsuchung zwei Spielzeugpistolen und eine Armbrust. Das vereitelte Massaker schrumpfte auf die Größe einer Verzweiflungstat, die mit dem Selbstmord auch tatsächlich geschehen war.
Der Tipp kam von Mitschülern, die stets genau wissen, wer die Außenseiter sind. Die Lehrer haben, wie gewöhnlich nichts geahnt. Die Polizei verwickelt sich mittlerweile in Widersprüche. War das Verhör in der Schule beendet, als der Junge fortging und sich umbrachte? Oder ist er ihnen unter dem Vorwand, auf Klo zu müssen, entwischt? Durften die Polizisten den Jugendlichen überhaupt verhören, ohne die Eltern zu verständigen. Vorwürfe und Dementis. Alle haben streng nach Vorschrift gehandelt. Streng nach Vorschrift unterrichtet. Streng nach Vorschrift verhört. Streng nach Vorschrift allein gelassen.
Konnte sich niemand vorstellen, dass jemand, der einen Amoklauf plant und vor der Tat gestoppt wird, ein letztes Versagen erlebt? Was muss eine solche Bloßstellung aber erst für einen Jungen bedeuten, der den Plan längst aufgegeben hat? Der seine Verzweiflung zuletzt doch nicht in Gewalt münden lassen wollte, sondern beschlossen hatte, seine Zeit in der Schule, diesem seelenlosen Zwangsinstitut, abzusitzen, um danach vielleicht mit dem Leben zu beginnen?
Sie dementieren, lamentieren und missbrauchen den toten Schüler für ihre politischen Thesen. Schneller als jedes Beerdigunginstitut verrichten die Politiker, Funktionäre und Experten nun ihre Arbeit. Sind es die Gymnasien, die mit ihrem menschenverachtenden Leistungsanspruch Amokläufer züchten? Ist das dreigliedrige Schulsystem Schuld? Brauchen wir mehr Psychologen und Sozialarbeiter an den Schulen, um diesen Wahnsinn mit weniger Opfern durchzuhalten? Muss die Lehrerausbildung reformiert werden? Gibt es irgendwelche Vorschriften, die wir vergaßen zu verschärfen?
Sie haben alle Vorschriften eingehalten. Das Schulamt? Sowieso. Die Polizei? Keine Frage. Sie haben alle richtig gehandelt, so wie es in ihren Dienstvorschriften schriftlich niedergelegt ist. Es ist ihnen nichts vorzuwerfen. So wenig wie dem Jugendamt in Bremen, wo Kevin verhungerte, oder dem in Schwerin, wo nun Lea-Sophie verdurstete. Wir sind von Beamten und öffentlichen Angestellten umgeben, die alle die Vorschriften beachten. Die Vorschriften aber, sind zum Schutz der Beamten erlassen worden, damit sie sich alle dahinter verstecken können, damit keiner Rechenschaft ablegen muss. Wo Vorschriften herrschen, gibt es keine Verantwortung. Wer sich auf Vorschriften beruft, kann nicht zur Verantwortung gezogen werden. Außer er handelt verantwortlich und missachtet die Vorschriften, den Dienstweg, die Aktenzeichen. Wir brauchen nicht mehr Lehrer, mehr Sozialarbeiter, mehr Polizisten, mehr Schulpsychologen – wir brauchen einfach mehr Menschen.
Die Kölner Schüler, die ihre Amokpläne verwarfen, haben Verantwortung gezeigt. Einer ist daran zerbrochen. Der andere ist – auf eigenen Wunsch – in psychiatrischer Behandlung. Man kann für ihn nur hoffen, dass es in der Psychiatrie keine Vorschriften gibt.