Demeter oder der Blick zurück
Essay über die Entstehung des Getreides und Kritik der Ahnenlosigkeit1
Brotbacken
Wer sein Brot selbst backt, hat sich vielleicht schon einmal über die Einfachheit gewundert, die ein solches Werk auszeichnet.
Selbst die Zubereitung von Sauerteig, für das Backen von Roggenbrot unentbehrlich, ist verblüffend einfach; eine Handvoll Mehl und etwas Wasser genügen. Beides wird vermischt und einige Tage stehen gelassen, bis die Mischung von selbst anfängt zu gären. Nun gibt man jeden Tag etwas Mehl und Wasser zur Mischung hinzu, bis man schließlich die für das Backen eines Brotes erforderliche Menge an Sauerteig erhält. Diesen Brei vermischt man mit Roggen- und Weizenmehl, Wasser und Salz und knetet daraus den eigentlichen Brotteig. Anschließend stellt man den Teig an einen warmen Ort und wartet, bis er aufgeht. Dann knetet man den Teig erneut durch, formt einen Brotlaib, heizt den Ofen an, wartet, bis der Laib erneut etwas aufgegangen ist und schiebt ihn in den heißen Ofen, wo er zu Brot ausgebacken wird. Das ist alles. Es gibt kein Geheimnis. Außer Geduld ist keine besondere Fähigkeit vonnöten, um sein Brot selbst zu backen. Natürlich macht Übung den Meister. Die Handgriffe, mit denen man den Teig bearbeitet, wollen gelernt, das richtige Verhältnis von Wasser, Mehl und anderen Zutaten will gefunden und die richtige Temperatur, bei der ein Sauerteig sich besonders gut entwickelt, will eingehalten werden. Doch das Grundprinzip ist einfach. Seit Tausenden von Jahren backen die Menschen auf diese schlichte Art und Weise ihr Brot. Erst die moderne Nahrungsmittelindustrie machte aus dem einfachen Vorgang des Backens einen komplizierten Prozess, in dem bedenkliche Chemikalien die Geduld des Bäckers ersetzen.
Die Gewissheit, sein täglich Brot selbst backen zu können, ist ein gutes Gefühl. Das Werk macht satt, es schmeckt und es befriedigt. Inmitten unserer bedrängenden Zivilisation fühlen wir unsere ursprüngliche Freiheit als tätiger Mensch und sind für einen Augenblick unser eigener Herr. So wurde das selbst gebackene Brot zu einem Symbol zivilisationskritischer Bewegungen des letzten Jahrhunderts. Es steht für eine Rückbesinnung auf einfache Lebensentwürfe und naturnahes Wirtschaften. Für den in industrialisierten Verwertungszwängen und arbeitsteiligen Produktionsprozessen eingepferchten Menschen des 20. Jahrhunderts war es zudem ein Symbol für ein ganzheitliches, ursprüngliches Dasein, das durch die Industrialisierung verloren gegangen war. Als Protestbewegung waren die zivilisationskritischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ein teils bewusster, teils naiver Anachronismus. Nur für den zivilisationsmüden Blick liegt im Brotbacken etwas Ursprüngliches. Denn wer ein wenig tiefer blickt, entdeckt hinter dem einfachen Vorgang des Brotbackens eine schier unendlich erscheinende Kette von Abhängigkeiten, einen Abgrund angefüllt mit den Generationen, die vor uns lebten und ohne die wir niemals in der Lage wären, unser täglich Brot zu backen. Wir verdanken die Freiheit, unser tägliches Brot selbst zu backen, nicht nur dem Landwirt, der das Getreide angebaut, dem Müller, der es gemahlen, und dem Händler, der uns das Mehl verkauft hat. Die Spezialisierung der Menschen, die Arbeitsteilung der Gesellschaft, die Industrialisierung der Landwirtschaft, des Handwerks und des Vertriebs sind sehr späte Erscheinungen. Sie stehen nicht am Anfang, um den es uns geht. Sie bilden nicht die vollständige Kette aus Generationen, die uns mit dem Ursprung verbindet. Wir stehen nicht nur in der Schuld all derjenigen, die die verschiedenen Fertigkeiten des Säens und Erntens, des Mahlens und des Handelns entwickelt und dann von Generation zu Generation weitergegeben haben. Obwohl schon die Reihe dieser Vorfahren allein uns klarmachen sollte, dass wir unser täglich Brot nicht durch unsere eigene Arbeit verdienen, sondern einer fast anfangslos erscheinenden Tradition, der Arbeit von Generationen verdanken. Wir aber suchen das, was dieser Tradition vorausging. Es geht uns um das Getreide selbst.
Nomadenwege und Allopolyploidie
Keine einzige Getreidesorte, weder der Mais Amerikas oder der Weizen Europas und Mesopotamiens, noch der Reis Asiens sind natürlichen Ursprungs. Weizen, Roggen, Gerste, Reis, Mais, Hirse und Hafer – sämtliche Getreidesorten sind Züchtungen des Menschens.
Sie gehören alle zur Pflanzenfamilie der Süßgräser, die mit rund 100.000 Arten in mehr als 650 Gattungen eine der größten Familien innerhalb der Blütenpflanzen darstellt und in jeder Klimazone vorkommt. Uns interessiert ihr Ursprung. Die Frage, wie aus wilden Süßgräsern das erste Urgetreide entstanden ist.
Wir sind in dieser Frage nicht viel klüger, als die Alten, für die das Getreide ein Geschenk der Götter war. Sie wussten ganz genau, dass das Dasein des Korns keine Selbstverständlichkeit war, dass es nirgends wild wuchs, sondern bloß dort den Hunger stillte, wo der Mensch es kultiviert. Während das Wild in den Wäldern und die Fische im Wasser bloß gejagt werden mussten, verlangte das Korn viel mehr von der menschlichen Gemeinschaft und formte sie nachhaltig. Der richtige Zeitpunkt der Saat war ebenso entscheidend für das Überleben der Gemeinschaft wie eine stetige Bewässerung der Felder. Wer einmal beim Fischfang kein Glück hatte, konnte es schon am nächsten Morgen wieder versuchen. War aber der Zeitpunkt der Saat ungenutzt verstrichen, drohte dem Menschen ein ganzes Hungerjahr. Verfehlte der Speer den Hirschen musste sich der Jäger mit kleineren Beutetieren zufrieden geben. War aber ein Feld von einem Unwetter zerstört, gab es nirgends Ersatz.
Wegen all dieser Fährnisse opferten die Alten ihren Göttern, denn sie wussten, dass das Korn sich nicht wie die Tiere an Land oder die Fische im Wasser von selbst vermehrt. Es musste angebaut und gepflegt werden, und das Wissen darüber galt es von Generation zu Generation weiterzugeben. Der Ursprung des Getreides aber lag für die Alten ebenso im Dunkeln wie für uns. Seit mehr als 10.000 Jahren baut der Mensch im Nahen Osten Getreide an. Wie es dazu gekommen ist, wissen wir nicht. Wie sind aus den Samen der Wildgräser, die der erste stärkere Wind fortträgt, größere und ergiebigere Getreidesamen entstanden?
Die Biologie erklärt dies mit dem Begriff der Allopolyploidie. Bei der Allopolyploidie besitzt die Pflanze Chromosomensätze von mindestens zwei verschiedenen Arten. Ein solcher Bastard pflanzt sich in der Regel nicht fort, da die Meiose gestört ist. Wenn sich aber die Chromosomen der Elternarten stark von einander unterscheiden, können auch die Nachkommen fruchtbar werden, sodass eine dauerhafte neue Bastardart entsteht. Polyploide Pflanzen sind häufig ertragreicher als haploide oder diploide, weil die für die Synthese von Proteinen verantwortlichen Gensequenzen gleich mehrfach im Zellkern vorliegen. Bei den Süßgräsern kommt es recht häufig zu einer fruchtbaren Allopolyploidie. Unter den Weizenarten gibt es diploide mit zwei Chromosomenpaaren wie beim Einkorn, allotetraploide mit vier wie bei Dinkel, Emmer und Hartweizen und allohexaploide mit sechs wie bei unserem heutigen Saatweizen. Da die Geschlechtszellen zum Beispiel von di- und triploiden Eltern nicht miteinander verschmelzen können, stellt die Polyploidisierung eine genetische Barriere dar und fördert die Bildung neuer Arten ohne geographische Isolation. Die genetischen Ursachen für die Entstehung der Getreidearten liegen also in den Süßgräsern selbst. Sie bergen in sich die Möglichkeit, sich in Getreide zu verwandeln.
In den Geschichtsbücher heißt es, dass der Mensch irgendwann anfing, diesen Mechanismus, den er noch nicht durchschaute, für die Zucht von Getreide zu nutzen. Der Begriff der Zucht setzt aber – auch ohne Wissen um die genetischen Zusammenhänge – ein gezieltes Handeln voraus, es muss eine bewusste Auswahl und Kultivierung der ertragreichsten Pflanzen durch den Menschen stattgefunden haben. Dies kann aber nicht am Anfang der Entwicklung der Fall gewesen sein. Die Kultivierung und landwirtschaftliche Zucht ist vielmehr das Ergebnis einer Entwicklung, die woanders ihren Anfang genommen hat. Wir müssen uns stattdessen vorstellen, dass der Mensch ursprünglich durch seine bloße Anwesenheit die Pflanzen in seiner Umgebung zu seinen Gunsten verändert hat, dass er völlig unbewusst den Vorgang der Polyploidisierung in Gang gesetzt hat. Wie kann das aber vor sich gegangen sein?
Schauen wir uns an, wie die Menschen gelebt haben, bevor sie Getreide anbauten. Die ersten Menschen waren Nomaden, Jäger und Sammler, die vermutlich in einem jahreszeitlichen Rhythmus mit den Herden ihrer Beutetiere wanderten. Auf ihren weiten Wanderungen werden sie auch die Samen der Süßgräser gesammelt und verzehrt haben. Dabei werden sie natürlich die besonders großen und nahrhaften Samen bevorzugt haben. Um ihre Kinder zu nähren, brachten die Sammlerinnen, denn wir vermuten, dass den Frauen das Sammeln oblag, während die Männer auf Jagd gingen, die besonders großen Körner in ihre Lager entlang der großen Wanderwege. Dabei sind auch immer wieder Körner verloren gegangen und aufgekeimt. Die keimende Pflanze bewahrte die Größe des Mutterkorns, sodass sich mit der Zeit entlang der Wanderpfade des Menschen Wildgräser mit besonders großen Samenkörnern ansammelten, die sich immer wieder mit anderen großkörnigen Gräsern kreuzten konnten, die der Mensch von weit her einsammelte, bis die besonders nahrhaften Süßgräser in der Nähe der Menschen wie von selbst wuchsen. Heutzutage kann man etwas Ähnliches entlang der heutigen Wanderwege beobachten. So siedeln aus fernen Ländern eingeschleppte Pflanzen zunächst bevorzugt entlang von Autobahnen, weil sie von den Lastwagen, die in den Häfen mit Samen behaftete Fracht aus Übersee geladen haben, kilometerweit ins Inland transportiert werden. Wir stellen uns also vor, dass die Menschen auf ihren Wanderungen Wildgräser aus den unterschiedlichsten Regionen einschleppten, sodass entlang der Wanderrouten des Menschen die Artenvielfalt immer größer wurde. Die höhere Dichte unterschiedlicher Arten begünstigte die Polyploidisierung. Was in den Steppen an weit voneinander entfernten Orten sehr selten passierte, die Vervielfältigung des Chromosomensatzes durch Kreuzung sehr unterschiedlicher Arten, wodurch fruchtbare Bastarden entstanden, konnte entlang der menschlichen Wanderwege sehr viel häufiger geschehen, sodass polyploide Wildgräser schließlich bevorzugt entlang der Wanderwege der Nomaden wuchsen. Und durch die polyploide Artbildung kam es dann endlich zur Ausprägung des ersten Urgetreides. Irgendwann konnten sich die polyploiden Wildgräser nicht mehr mit anderen Wildgräsern kreuzen und es entstanden die ersten Getreidesorten. Das Sammeln besonders nahrhafter Grassamen führte so zu einer Ansammlung besonders nahrhafter Wildgräsersorten entlang der Wanderwege der nomadisierenden Sippen. Dies wiederum erhöhte die Chance, dass sich Pflanzen mit einem passenden polyploiden Chromosomensatz miteinander kreuzen konnten, sodass die zufällig an weit voneinander entfernten Orten entstandenen polyploiden Sorten sich fortpflanzen und eine lebensfähige Pflanzengemeinschaft bilden konnten. Die Wanderwege der Sammler brachten polyploide Einzelpflanzen in eine räumliche Nähe zueinander, die eine kontinuierliche Fortpflanzung erst möglich machte.
Erst nach Jahrtausenden des Sammelns und Verlierens, in denen die Wildgräser wie von selbst immer größer wurden, fing der Mensch irgendwann an, die Süßgräser bewusst auszusähen und das Korn für die Aussaat im nächsten Jahr aufzubewahren. Der Beginn der Kultivierung ging damit dem der Sesshaftigkeit voraus. Bei einer halbnomadisierenden Lebensweise ist es durchaus denkbar, dass aufbewahrte Getreidekörner an bestimmten Stellen ausgesät und die Orte zur rechten Zeit wieder aufgesucht wurden, um zu ernten. Vielleicht wurden einzelne Wächter zurückgelassen, die die Felder bewachen sollten. Da dies wohl nicht genügte, zwang der sporadische Getreideanbau schließlich ganze Sippen zur Sesshaftigkeit.
Es war der Wunsch ungezählter Generationen zu überleben, ihr Hunger nach großen, sättigenden Grassamen, der sie ausschwärmen und sammeln ließ, ihre Furcht vor räuberischen Tieren und Menschen, ihre hoffnungslose Verzweiflung, wenn der Regen ausblieb und die Süßgräser vor der Reife verdorrten, was in Jahrtausenden etwas entstehen ließ, was wir heute in den Geschichtsbüchern mit einem lapidaren Satz über die Kultivierung von Getreidesorten und den Beginn der Sesshaftigkeit des Menschen abtun. Dabei ist hier tatsächlich so etwas wie ein Wunder geschehen. Der Wunsch von Generationen, große sättigende Samenkörnern zu finden und nach Hause zu bringen, ist irgendwann in Erfüllung gegangen. Die unbewusste Auswahl und Akkumulation der größten Körnern in der Nähe menschlicher Siedlungen wurde zu einem tiefen, schöpferischen Eingriff in die Natur, dessen Resultat die Entstehung ganz neuer Arten war. Zwar ist die Natur dem Menschen dabei entgegen gekommen und hat durch die genetische Schranke der Polyploidie die Artbildung begünstigt, aber der Hunger und die Wünsche des Menschen, haben die Verdichtung der Wildgraspopulationen erst in Gang gebracht. Dennoch hat die Natur in gewisser Weise den Wunsch des Menschen erhört und ihm das Getreide geschenkt. In den Demeter-Kulten der Alten findet der ökologisch-genetische Zusammenhang seine mythologische Entsprechung. Selbst heute, wo wir den Prozess verstehen, sind wir an der Bildung neuer Getreidesorten nur zur Hälfte beteiligt, die zweite Hälfte, die Polyploidie und die Artbildung sind eine Folge der natürlichen Gegebenheiten, ein Geschenk der Natur – was heute gerne vergessen wird.
Kreativität der Tradition
Wir sind gewohnt, die Menschheitsgeschichte als eine Abfolge von Erfindungen zu betrachten, die aufeinander aufbauen und das technische Verständnis der Menschen stetig erweitern und immer mehr verfeinern. Was wir dabei aus dem Blick verlieren, sind Veränderungen, die nicht auf Erfindungen basieren, sondern auf ihrem Gegenteil, der Tradition.
So hat das Sammeln und Verspeisen von Wildgräsern über viele Jahrtausende hinweg entlang der Wanderrouten dazu geführt, dass sich in den Erbanlagen der Süßgräser, diejenigen Qualitäten ansammelten, die schließlich zur Ausbildung der ersten Getreidesorten führten. Das Sammeln der Menschen bewirkte eine Ansammlung spezieller Eigenschaften in den Anlagen der Pflanzen. Der Mensch hat dabei den Pfad der Tradition nie verlassen. Er hat jedes Jahr das Gleiche gemacht. Er durchstreifte seine Umgebung auf großen und kleinen Wanderungen entlang der Nomadenwege seiner Urahnen, sammelte an den Rändern seiner Welt die nahrhaftesten Wildgräser zusammen und führte sie auf seinen immer gleichen Wanderungen mit sich. Mit den Tieren, die er jagte, trat der Mensch die Wildpfade in den Savannen und Wäldern. Und entlang dieser Pfade sprossen die verlorenen Grassamen jedes Jahr aufs Neue auf und wurden durch die stetige Einkreuzung mit ebenfalls üppigeren Samen, die der Mensch von den Rändern seiner Welt einschleppte, von Jahrtausend zu Jahrtausend nahrhafter. Diesem Prozess liegt keine Erfindung zu Grunde. Der Hunger setzte ihn in Bewegung. Die aus seiner Bedürftigkeit erwachsene Gewohnheit von den immer gleichen Wanderpfaden aus an die Weltränder auszuschwärmen, um besonders nahrhafte Grassamen zu finden, veränderte über Jahrhunderte die Ökologie der menschlichen Welt und akkumulierte in den Anlagen der Süßgräser das Getreideartige. Erst sehr spät kam eine erste Erfindung hinzu, das eigenhändige, bewusste Aussähen der Samen, und schließlich die kopernikanische Wende der Sesshaftigkeit, der Wandel des Menschen vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern. Nun griff der Mensch noch sehr viel gezielter in die Zucht der Saaten ein, indem er die besten Körner als Saatgut fürs nächste Jahr aufbewahrte und dadurch den Prozess der Veränderung beschleunigte. Aber auch hier stoßen wir vorwiegend auf Tradition, auf überkommenes Wissen. Behalte das Beste zurück, damit du im nächsten Jahr nicht hungern musst. Sähe zur besten Zeit, ernte zur rechten. Die großen Erfindungen, wie die ausgeklügelten Bewässerungstechniken geschahen am Rande dieses Prozesses, nicht im Kern der langsamen genetischen Veränderung. Die planvolle Bewässerung großer Areale schuf erst sehr viel später die Hochkulturen, bildete in einem dialektischen Prozess der gegenseitigen Abhängigkeit Staaten und Königreiche und baute schließlich die Pyramiden, die wir heute noch anstaunen. Die Verbesserung des Saatguts, die Ausprägung unserer heutigen Getreidesorten haben wir jedoch den archaischen Traditionen der Jahreszeiten, dem Sähen, Hegen und Ernten zu verdanken. Der Weizen ist im wörtlichen Sinne aus dem Schweiß des Bauern entstanden. Sein unermüdliches Festhalten an urzeitlichen Gewohnheiten hat neue biologische Arten entstehen lassen. Und die Wildgrassammlerinnen der Vorzeit sind die eigentlichen Schöpferinnen, die Göttinnen des Weizens. Sie haben entlang der Wildpfade des Menschen rharische Felder wachsen lassen. Und die Alten haben diesen vielleicht unbewusst geahnten Zusammenhang im Demeter-Kult und den Eleusinischen Mysterien aufbewahrt. Es war Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit, die Triptolemos und damit den Griechen die Geheimnisse der Landwirtschaft offenbarte. Im Mythos der Demeter und ihrer in die Unterwelt entführten Tochter Persephone haben die Alten die Abfolge der Jahreszeiten und den Kreislauf von Saat und Ernte personifiziert. Darum können wir mit Recht von einer Kultivierung des Weizens sprechen. Denn Aussaat und Ernte wurden von Kulten geregelt, die jahreszeitliche Rhythmen abbildeten. Der in prähistorischen Observatorien beobachtete Lauf der Sonne und der Gestirne oder die eleusinischen Mysterien dienten letztendlich dem Kult des Wachsens und sind eine Vergegenständlichung der Instinkte des Nomaden, der mit den Jahreszeiten wanderte und lebte.
Die Entstehung von Gerste, Emmer, Einkorn und Rauweizen, von Hirse, Reis und Mais gleicht einem kleinen Bach, der in Jahrtausenden ein tiefes Tal ins Gebirge gräbt. Das öko-biologische Wirken des Menschen spielte sich in fast geologisch langen Zeiträumen ab. Die Prozesse der Vererbung, die wir heute ansatzweise verstehen, waren dem Bewusstsein der Nomaden und ersten Siedler nicht zugänglich. Sie spielten sich hinter dem Schleier der Zeit ab und wurden als Mythen erzählt und in Mysterien erfahren. Kulte und Mythen sind jedoch erste Stufen der Erkenntnis, und sie stehen damit am Ende eines Erkenntnisprozesses. Selbst die ältesten Kulte reichen nicht in die Zeiten zurück, in denen der Mensch das erste Getreide entstehen ließ, indem er wilde Süßgräser sammelte und durch seine Auswahl einen genetischen Veränderungsprozess in Gang setzte.
Ganz anders heute. Die Vererbungslehre des beginnenden Industriezeitalters und die moderne Genetik haben den Zuchtprozess beschleunigt. Wir sind mittlerweile in der Lage, innerhalb weniger Jahre Nahrungsmittel mit völlig neuen Eigenschaften zu erzeugen. Die Göttin Demeter wird von neuen Göttern bedrängt, von Genkonzernen wie Monsanto, die ihr Wissen für brachiale Gewalttaten missbrauchen, indem sie Mais herstellen, der selbsttätig Insektengift produziert oder – wie praktisch – gegen Monsanto-Herbizide immun ist. Nicht der Hunger treibt diese Konzerne an, sondern die Gier nach Gewinn. Vergessen wird dabei, welchen Schatz die ›natürlichen‹ Lebensmittel darstellen, die der Mensch durch sein Dasein, seine Arbeit und seinen Hunger entstehen ließ. Vergessen wird dabei auch die andere, wichtigere Hälfte der Artbildung, die Handreichung der Natur. Nur weil sie den Anteil der Natur unterschlagen, können die Gen-Konzerne auf ihre Züchtungen Patente anmelden, so als ob die neuen Sorten wirklich ihr Werk wären. Doch das sind sie nicht einmal zur Hälfte, da der Ausgangspunkt der Manipulationen, die hergebrachten Getreidesorten die akkumulierte Arbeit zahlloser Generationen darstellt, die von den Konzernen einfach privatisiert wird. Die Konzerne nutzen die Arbeit der vorausgegangenen Generationen und die Gunst der Natur für ihre eigenen Zwecke, ja sie glauben sogar, die Natur zu beherrschen und behandeln sie wie einen Tributpflichtigen – eine abstoßende Hybris, die wir mit einer Strafe ahnden sollten, die schon die Alten kannten, der Verbannung.
Entfremdung
Natürlich ist es nicht das Brot allein, das wir unseren Vorfahren verdanken, aber es ist das Symbol für die Gesamtheit unserer Kultur, die wir als die unsrige begreifen, obwohl wir das Meiste davon bloß geerbt haben. Die ehrlichste Religion wäre daher ein Ahnenkult, der sich vor den titanischen Leistungen der ungezählten Generationen, die uns vorausgingen, verneigen würde.
In einer Zeit, in der wenige Jahrzehnte ausreichten, um das Antlitz unseres Planeten so fürchterlich zu verunstalten, in der Metropolen in einem Dutzend Jahren aus dem Nichts entstehen und immer höhere Wolkenkratzer im Jahresrhythmus in die Höhe schießen, in einer Zeit der exponenziellen Beschleunigung des Aufbaus und der Zerstörung, ist es nicht überraschend, dass der Mensch jedes Maß verliert und glaubt, er selbst sei seines Glückes Schmied. Er vergisst die Leistungen der Vorausgegangenen, unterschätzt ihren Wert und verfällt einer vereinsamenden Hybris. Er ist einsam, weil er sich nicht mehr als Teil einer langen Kette begreift, nicht damit zufrieden ist, das Bestehende zu bewahren, und so ganz langsam Gras in Getreide zu verwandeln, worin wahre Kreativität besteht. Stets möchte er der Erste sein, auf Bodenlosem Neues schaffen, Altes überwinden. Darin gründet unsere heutige maßlose Entfremdung. Wir verhalten uns wie Wesen ohne Herkunft, wie autochtone Aliens, die aus dem Nichts auftauchen.
Es gibt kein Zurück. Und für Anachronismen läuft uns die Zeit davon. Dennoch ist es hilfreich zurückzublicken. Wenn wir erkennen, wie viel wir den Generationen vor uns verdanken, zeigen sich die Patentansprüche der Genkonzerne als das, was sie sind, als eine dreiste und perverse Usurpation und Enteignung der ganzen uns vorausgegangenen Menschheit. Das Bewusstsein, von der Arbeit der ungezählten Generationen vor uns zu profitieren, schärft vielleicht den Blick dafür, dass auch nach uns Generationen kommen, die nur dann überleben können, wenn wir erkennen, dass wahrer Reichtum nicht in einer Vervielfachung der Kapitalrendite besteht, sondern in unserem zivilisatorischem Erbe, dass wir vor lauter Gier nicht verspielen dürfen.
An dieser Stelle sei betont, dass eine solche Sichtweise sich nicht mit dem christlichen Glauben und seiner Forderung nach Bewahrung der Schöpfung deckt. Unser Standpunkt kennt kein absoluter. Das Christentum hat mit Demeter gebrochen, es hat die eleusinischen Mysterien und die Traditionen der Alten zerstört, es hat sich wie ein autochtoner Alien aufgeführt. Das Christentum will nicht die Schöpfung bewahren, sondern bloß die Deutungshoheit darüber mit Gewalt zu erringen. Das Christentum weiß noch nicht einmal anzugeben, was mit ›Schöpfung‹ überhaupt gemeint ist. Zählt es das Getreide — wie wir gesehen haben, zumindest teilweise ein Werk des Menschen — zur Schöpfung hinzu? Ist Genmais Teil der Schöpfung, und wenn nicht, warum nicht? All diese Fragen kann das Christentum nicht beantworten. Wenn wir uns aber bewusst sind, wie Getreide entstanden ist und mit welcher Hybris Monsanto und andere Konzerne Getreidesorten als ihr Eigentum ansehen, so haben wir genügend Argumente, um die Usurpatoren in die Schranken zu weisen.
Unser Standpunkt ist anders als der des Christentums ein relativer, er vergleicht das schmale Hier und Jetzt mit dem breiten unüberschaubaren Gestern und verbindet damit das eigene Sein mit dem Sein derjenigen, die vor uns lebten. Die Vergangenheit bleibt so in der Gegenwart anwesend. Das mag in einer Zeit, in der alle gebannt auf die Zukunft und ihre imaginierten Errungenschaften starren, altertümlich klingen. Da jedoch die Zukunft noch nicht ist, ist der sture Blick nach vorn immer auch ein Blick ins Nichts, vor dem uns vielleicht mit Recht graut. Ohne Furcht, aber auch ohne Hybris, kann nur der nach vorne schauen, der sich von der Vergangenheit getragen weiß.
Literatur
Hasecke, Jan Ulrich: Demeter und die Allmende des Seins: Spekulativer Essay wider die Ahnenlosigkeit und die Anmaßung des Eigentums. Auflage:
Fußnoten
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Dieser Essay ist in einer überarbeiteten Fassung als eigenständige Publikation erschienen. Hasecke, Jan Ulrich: Demeter und die Allmende des Seins: Spekulativer Essay wider die Ahnenlosigkeit und die Anmaßung des Eigentums. Auflage: 1. 2014 ↩︎