60 Jahre Bundesrepublik: Zeit für ein Upgrade

Essay über ein politisches Upgrade Deutschlands aus Anlass des 60-jährigen Jubiläums der Bundesrepublik Deutschland. 23. Mai 1949 - 23. Mai 2009

BRD 60/Teil 1: Vagabundierender Exkurs über das Grundgesetz.

Vor 60 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Es ist auch heute noch ein verstörendes Gesetz; eins, das die Politiker und die Mächte hinter ihnen immer wieder in die Schranken weist.

Vielleicht versuchten sie es deshalb so oft wie möglich zu verändern. Eine Aufweichung seines Kerns verhinderte jedoch die Ewigkeitsklausel, die in weiser Voraussicht von den Verfassern in Artikel 79 Absatz 3 festgelegt wurde. Es tut gut das Grundgesetz in seiner Urfassung zu lesen, mit der aktuellen Fassung zu vergleichen und festzustellen, dass es den Politiker nicht gelang, sein Wesen komplett zu verändern.

Geschrieben auf Ruinen

Das Grundgesetz ist ein Wunder, das nur auf den Ruinen des zweiten Weltkriegs geschrieben werden konnte; in einer Zeit, in der verfestigte staatliche Strukturen aus der Weimarer Republik durch Nazidiktatur, Krieg und zum Schluss durch den völligen Zusammenbruch des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens hinweggefegt worden waren. Verfassungen brauchen eine tabula rasa.

Der völlig verquere Verfassungsentwurf für Europa zeigt, dass eine gute Verfassung nicht im satten Frieden, nicht unter dem Einfluss bestehender staatlicher Strukturen gedeihen kann. Die Grundlagen eines Staates lassen sich nur bauen, wenn der Staat noch nicht existiert oder sein Vorgänger in Trümmern liegt. Das ist auch der Grund dafür, dass es nach der Wiedervereinigung keine neue Verfassung für Deutschland gab, obwohl das Grundgesetz in seiner Präambel das gesamte Deutsche Volk aufforderte, »in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.« Ein bestehender Staat wie die alte Bundesrepublik lässt sich eben so schnell kein neues Fundament unterschieben, sodass dem Deutschen Volk in den neuen Ländern nichts anderes übrig blieb, als der Bundesrepublik Deutschland beizutreten.

Duodezfürstliche Reste

Wer die Präambel von 1949 und ihre Neufassung von 1990 genau liest, wird feststellen, dass das Deutsche Volk als handelndes Subjekt im Text nur indirekt angesprochen wird. Die eigentlich handelnden Subjekte sind – die traditionelle Kleinstaaterei mit ihren fürstlichen Souveränen lässt grüßen – sind die Länder. Wesentliche Elemente des Grundgesetzes wurden von den Ministerpräsidenten auf dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee festgelegt. Und die Mitglieder des Parlamentarischen Rats wurden auch nicht vom Deutschen Volk, sondern von den Landesparlamenten gewählt. Das Deutsche Volk hat die so oft apostrophierten Väter und Mütter des Grundgesetzes nie selbst gewählt. Auch 1990 gab es kein Votum des Volkes – die Länder traten der Bundesrepublik bei. 1990 ist nichts Neues entstanden, es ist nur etwas Altes, die DDR, endgültig Vergangenheit geworden.

Den Opfern subversiv gedenken

Das Grundgesetz ist aus Trümmern erstanden, und wo Trümmer sind, da gab es Tote. Neues kann nur unter großen Opfern entstehen. Und so sind wir zuzeiten aufgerufen, diesen Opfern zu gedenken, obwohl dies in verfestigten staatlichen Strukturen im Grunde subversiv ist. Wer den Opfern gedenkt und dies nicht bloß rituell, sondern mit wahrer Hinwendung tut, erkennt, dass es in der Geschichte immer wieder Opfer gegeben hat und dass es immer wieder Opfern geben wird. Und wenn wir nicht höllisch aufpassen, werden wir selbst die Opfer sein, die notwendig sein werden, um Neues zu schaffen. Denn das Grundgesetz hat unserer Gesellschaft ein Fundament gegeben, auf dem sich ein Staat aufbauen und Strukturen verfestigen konnten. Und das kann nicht lange gut gehen. In den letzten 60 Jahren ist ein Staat entstanden, in dem mittlerweile Vieles im Argen liegt, in dem das Grundgesetz mehrfach überbaut wurde und die Politik von einer fatalen Eigengesetzlichkeit angetrieben wird.

BRD 60/Teil 2: Großes Lamento über das Versagen des Parteienstaats

60 Jahre Grundgesetz – das wäre ein Grund zu Feiern, wenn unsere Politiker nicht ein so erbärmliches Bild abgeben würden. Eine äußerst lächerliche Symbolpolitik hat das politische Handeln abgelöst.

Entwürdigende Symbolpolitik

Anstatt die systemimmanenten Übel des liberalisierten Finanzmarktes zu beheben, die durch die Finanzkrise auch dem dümmsten Abgeordneten klar geworden sein müssten, beschließen Regierung und Parlament quasi in einer psychologischen Ersatzhandlung eine Abwrackprämie, die – darüber sind sich Wirtschaftsexperten nahezu einig – am Ende fatale volkswirtschaftliche Folgen haben wird. Das Versagen der Regierung vor dem volkswirtschaftlichen Amoklauf der Banken ist mit Sicherheit das folgenreichste.

Doch es gibt noch andere augenfällige Beispiele für eine lediglich den Binnengesetzen der politischen Anstalt gehorchende Politik, zum Beispiel bei dem vorgeblichen Versuch, Kinder vor Missbrauch zu schützen. Es ist bekannt, dass der Missbrauch von Kindern, der zum Großteil innerhalb der Familie stattfindet, von den Tätern auf Filmen und Fotos festgehalten wird und diese dann im Internet getauscht werden. Anstatt nun die Server, auf denen diese Kinderpornografie im Internet verteilt wird, durch eine E-Mail an die Provider vom Netz zu nehmen und die Betreiber der Websites strafrechtlich zu verfolgen, will die Familienministerin, Frau von der Leyen Zensurmaßnahmen im Internet einführen. Ein Vorhaben, das auf heftigen Protest stößt, was Frau von der Leyen jedoch kalt lässt. Ob sich die Ministerin einfach nur verrannt hat und nicht über die soziale Kompetenz verfügt, ihre Meinung aufgrund stichhaltiger Argumente von unterschiedlichster Seite zu ändern, oder ob sie in der Tat das abscheuliche Verbrechen des Kindesmissbrauchs , mit kaum zu überbietendem Zynismus und eiskaltem Kalkül als ein besonders perfides trojanisches Pferd zur Einführung eines Instrumentariums zur Zensierung des Internet benutzt, kann hier dahingestellt bleiben. Mit ihrer Politik entwürdigt sie in beiden Fällen das Volk, in dessen Namen sie vorgibt, Politik zu machen.

Ein anderes Beispiel für eine völlig aus dem Ruder gelaufene Gesetzgebung ist das neue Waffenrecht, das die große Koalition uns nach dem Amoklauf von Winnenden versprach, bei dem ein Sportschütze mit einer großkalibrigen Waffe 16 Menschen getötet hat. Nur mit sehr viel Fantasie wäre ein überdrehter Satiriker darauf gekommen, anstatt der Schützenvereine, in denen dieser Amokläufer an der tödlichen Waffe ausgebildet wurde, das Paintballspielen zu verbieten. Doch genau das hat die Regierung geplant: sie wollte Spielzeugpistolen verbieten und dem Volk vorschreiben, wie es seine Freizeit zu gestalten habe. Aufgrund des Gelächters in der Republik hat die Regierung nun erst einmal von diesem absurden Plan Abstand genommen. Abdera und Schilda waren gegen Berlin ein Hort der Vernunft.

Politik für Erwachsene

Es ist kein Wunder, dass die Kluft zwischen Bürgern und Politikern immer tiefer wird. Die infantile Art, mit der unsere Politiker, sich weigern, Politik für Erwachsene zu machen, ist nicht auf das Verbot von Spielzeugwaffen und die Einführung von Zensurmaßnahmen beschränkt. Seit Jahrzehnten weigern sich unsere Politiker wie verwöhnte Blagen beharrlich, die drückenden Probleme in wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft auch nur zu benennen, geschweige denn sie zu beheben. Ob Steuerpolitik, Gesundheitswesen, Renten, Bildung oder Finanzen – nirgends gibt es auch nur in Ansätzen ein adäquates Problembewusstsein, nirgends wird ein auf Vernunft gegründeter Gestaltungswille sichtbar. Der Infantilismus der Politiker, ihre strikte Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, gefährdet unser Gemeinwesen. So wie verzogene Kinder das Geld ihrer Eltern zur oralen Befriedigung für Süßigkeiten oder zur sozio-emotionalen Befriedigung für Markenklamotten, Handys und iPods ausgeben, genauso gedankenlos verschleudern die Politiker das Geld heutiger und künftiger Steuerzahler. Natürlich findet der Infantilismus der Politiker in der Rücksichtslosigkeit der Banker und in der generellen Schuldenmentalität unserer verantwortungslosen Konsumgesellschaft ihr Ab- oder Vorbild. Das soll ihr Versagen jedoch nicht beschönigen. Kinder handeln verantwortungslos, weil sie unmittelbare Bedürfnisse befriedigen wollen und Verantwortung nie gelernt haben. Manager reagieren auf die Anforderungen und Inzentives der Gesellschafter, die Kurssteigerungen und eine bilanzielle Gewinnmaximierung fordern und dafür mit hohen Boni winken. Das heißt, sie tun, was ihnen gesagt wird. Politiker jedoch sind aufgefordert, dem Gemeinwohl zu dienen. Sie befriedigen mit ihrer verantwortungslosen Finanzpolitik keine eigenen Bedürfnisse, wenn man die auf Korruption beruhenden Fälle einmal beiseite lässt.

Die Ursachen

Über die Gründe für das Versagen der Politik wird viel geschrieben, natürlich gibt es keinen idealen Staat, und man muss immer damit rechnen, dass bestimmte sozio-politische Ökosysteme die Ausbreitung einer bestimmten Spezies von Politiker fördert. Vergleicht man aber die politische Verfassung der Bundesrepublik mit der Verfassung anderer Länder, so werden Unterschiede deutlich. Einigen Übeln in der deutschen Politik wäre vielleicht beizukommen, wenn man die Stellschrauben im politischen Ökosystem anders setzen würde.

Eins der größten Übel verbirgt sich in den Artikeln 21 Absatz 1 (»Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.«) und 63 Absatz 1 (»Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.«) Aus diesen beiden Bestimmungen hat sich in der Bonner Republik eine mächtige Parteiendemokratie mit rigidem Fraktionszwang entwickelt, durch den Artikel 38, Absatz 1 (»Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.«) ad absurdum geführt wurde.

Aus unabhängigen Abgeordneten des Volkes sind Angestellte der Parteien geworden. Im deutschen Bundestag kommt es daher so gut wie nie zu überraschenden Abstimmungsergebnissen. An der Mehrheit jedes einzelnen Gesetzes hängt faktisch die Mehrheit der Regierung. Und die rechnerische Verteilung der Abgeordnetenmandate zu Beginn der Legislatur nimmt die Ergebnisse aller Abstimmungen vorweg. Die Diskussionen im Bundestag sind allesamt Schaudiskussionen; wenn es jemals echte Diskussionen gab, so wurden sie bestenfalls hinter den verschlossenen Türen der Fraktionen geführt.

Das Europaparlament kennt einen solchen Fraktionszwang nicht, weshalb es dort wie zuletzt bei der Abstimmung über das Telekompaket immer wieder zu Überraschungen kommt. Die größere Unabhängigkeit der Abgeordneten im Europaparlament macht sie empfänglich für Argumente und die Wünsche ihrer Wähler. Die Ablehnung der Softwarepatente im Jahre 2005 war für diejenigen Bürger, die sich bei ihren Europaabgeordneten gegen Softwarepatente eingesetzt haben, ein unerwartetes Erfolgserlebnis, das so im deutschen Bundestag völlig undenkbar wäre. Man kann an Europa vieles kritisieren, das Parlament ist sicher eine derjenigen europäischen Institutionen, auf die wir ein wenig stolz sein dürfen.

In Amerika finden wir ein anderes Detail, das einen eklatanten Fehler in unserer gelebten Verfassung deutlich macht; es wird durch eine Schmähung des US-Präsidenten als »lame duck« sinnfällig. Ein Bundeskanzler als lahme Ente ist nur schwer vorstellbar. Er wird entweder durch den Koalitionswechsel einer der ihn tragenden Parteien tragisch gestürzt wie Helmut Schmidt, oder er regiert bei Kritik aus den eigenen Reihen eine Zeit lang mit Vertrauensfragen, bevor er sich in Neuwahlen flüchtet, um als komische Figur abzutreten.

Das Land, wo die Regierung sich selbst kontrolliert

Das Mandat des Bundeskanzlers und seiner Regierung liegt in den Händen der Parteien, die die Mehrheit bilden. Unser Parlament kann daher die Regierung auch nicht wirklich kontrollieren, da die Mehrheit aus Parteien besteht, die die Regierung selbst stellen. Diese Parteien müssten sich also selbst kontrollieren, was absurd ist. Zwar wäre dies prinzipiell möglich, wenn die Abgeordneten im Parlament ein wirkliches Mandat ihrer Wähler hätten und damit unabhängig von Parteiinteressen agieren könnten. Doch als Angestellte ihrer Partei verdanken viele ihr Mandat einem Listenplatz, auf den sie mit vierjähriger Probezeit von ihrer Partei gehievt wurden. Kein Abgeordneter auf einem Listenplatz ist jemals vom Volk gewählt worden, seine gesamte Existenz mit allen Einkünften und Nebeneinkünften ist von der Partei abhängig, die daher auch eine bedingungslose Loyalität in jeder Abstimmung erwartet. Wie sollen diese abhängig Beschäftigten ihre Vorgesetzten in der Regierung kontrollieren?

Aus diesem Grund muss die Minderheit im Parlament auch regelmäßig zum Mittel des Untersuchungsausschusses greifen, um überhaupt noch ansatzweise Kontrolle auszuüben. In den USA sind Präsident und Parlament dagegen zwei voneinander völlig unabhängige Parteien, die zwar durch ein und dasselbe Volk legitimiert wurden, aber ein komplett getrenntes Mandat besitzen. Die Regierung ist damit ›der natürliche Gegner‹ des Parlaments, weshalb Senat und Repräsentantenhaus ihre Kontrolle und Rechte souveräner ausüben als Bundestag und Bundesrat. Beim Europäischen Parlament liegen die Dinge ähnlich. Es nur einen geringen Einfluss auf die Bildung der Kommission und kontrolliert diese daher umso kritischer.

Subsidiarität im Parteienstaat

Die Macht der Parteien zeigt sich nicht nur im Parlament, sondern auch in öffentlich-rechtlichen Anstalten, in denen die Parteien das Sagen haben, sowie auf den anderen politischen Ebenen über die Länder bis hinunter zur Kommune. Der vertikale Durchgriff der Parteien auf alle Ebenen der Politik führt dabei ein weiteres demokratisches Prinzip ad absurdum – die Subsidiarität. Diese politische und gesellschaftliche Maxime stellt Selbstverantwortung vor staatliches Handeln. Bei einer staatlich zu lösenden Aufgabe sind zuerst die untergeordneten, lokalen Glieder wie Stadt, Gemeinde oder Kommune für die Umsetzung zuständig. In einem vertikal von Parteien beherrschten Staat kann dies natürlich nicht funktionieren – die kommunistischen Länder mit ihren scheinbar unabhängigen Sowjets (Räten) von der betrieblichen über die kommunale und nationale bis zur übernationalen Ebene haben das auf besonders eklatante Weise gezeigt. Ein Kommunalpolitiker, der gegen seine Partei für die Interessen seiner Stadt eintritt, ist hierzulande ein Abtrünniger und genießt einen zweifelhaften Ruf. Seine Parteifreunde schneiden ihn und der politische Gegner nutzt die durch ihn erkennbare ›innere Spaltung‹ der Partei für seine Zwecke.

Theaterdiskussionen

Die an Parteigrenzen ausgerichtete politische Diskussion, der aufgebauschte Meinungsstreit, das parteipolitische Schattenboxen im Parlament und den unsäglich dummen Talkshows untergraben das Vertrauen der Bevölkerung in den Wert der politischen Diskussion überhaupt. Das ist kein Wunder – werden die Diskussionen doch nicht im Hinblick auf eine möglichst gute Lösung des Problems geführt, sondern als Stellungskrieg der Generalsekretäre inszeniert, in dem die Massenmedien durch ihre auf Theatralik ausgerichtete Berichterstattung wohlfeil sekundieren.

Politikverdrossenheit

Wer als junger Mensch in einer Partei Mitglied wird, gerät sofort in den Geruch, in den ›väterlichen Betrieb‹ des Pfründesammelns einsteigen zu wollen. Ein Verdacht, der sicher allzu häufig nicht aus der Luft gegriffen ist. Der Anschein, dass Politiker ihren 16-Stunden-Tag vor allem damit zubringen, in der Parteihierarchie nach oben zu gelangen, drängt sich doch sehr auf.

Was momentan wieder besonders nervt, ist das infantile Ausschließen bestimmter Koalitionen Die einen wollen keine Ampel, die anderen kein Jamaika. Was soll dieses infantile Verhalten? Die Unterschiede in der Art, wie unsere Parteien die Realität verleugnen, sind nicht so groß, als dass sie Koalitionen unmöglich machten.

Neben dem wahltaktischen Kalkül dürfte die Absage an bestimmte Koalitionen vermutlich auch tiefer liegende Ursachen haben – solange die auf eine Lösung hin ausgerichtete Auseinandersetzung mit den Argumenten anderer verweigert werden kann, solange braucht die Politik auch keine Verantwortung zu übernehmen. Die Weigerung bestimmte Koalitionen einzugehen, ist in Wirklichkeit die Weigerung, Politik für Erwachsene zu machen. Das Scheitern der großen Koalition zeigt dies sehr augenfällig. In dem Moment als die Mehrheit für wirklich tiefgreifende Reformen da war – wollte die Regierung Spielzeugpistolen verbieten.

BRD 60 / Teil 3: Open-Source-Communities als Problemlöser

Nun könnte man angesichts dieser Zustände in eine tiefe Depression verfallen, doch es gibt auch Hoffnung. Sie wächst zwar nicht bei Hofe, sondern wie eh und je im Bürgertum. Was uns vom 18. Jahrhundert unterscheidet, ist lediglich, dass aus den adligen Höfen Parteizentralen und Parlamente wurden und das Bürgertum sich in eine Community verwandelt hat.

Nicht jammern! Machen! Politik 2.0

Technologien verändern unsere Gesellschaft. Das Internet hat mit seinen Netzwerken eine völlig neue Dynamik in die öffentliche Diskussion gebracht. Die an den Haaren herbeigezogenen Argumente von Frau von der Leyen, mit denen sie uns die Zensur von Internetseiten schmackhaft machen wollte, wurden nahezu in Echtzeit von der Internet-Gemeinschaft mit Fakten vollständig entkräftet. Noch bevor das Gesetz zur Internetzensur überhaupt in die parlamentarische Beratung kam, gab es bereits eine erfolgreiche Petition, die sich gegen ein solches Gesetz wandte. Mussten Atomkraftgegner in den siebziger Jahren ihre Argumente in einer halbseidenen Gegenöffentlichkeit abseits der Medien auf Ökopapier vertreten, drucken etablierte Zeitungen heutzutage die Argumente der Zensurgegner schneller als die Pressestellen der Regierung überhaupt gucken können.

Noch funktioniert die Kontrolle von Parlament und Regierung durch die Internet-Community nur bei Themen, die eine hohen Affinität zum Internet aufweisen, wie die bislang erfolgreiche Abwehr von Softwarepatenten und der Widerstand gegen Internetzensur, Abmahnwahn, Computer-Überwachung und restriktive Urheberrechtsnovellen zeigen. Doch es ist absehbar, dass sich im Internet immer mehr Bürgergruppen spontan und anlassbezogen organisieren und die Einführung schädlicher und unsinniger Gesetze erfolgreich verhindern werden. Betätigungsfelder für eine vernunftgeleitete Politik gibt es genug.

Open-Source-Communities als politische Avantgarde

Doch Communities agieren nicht nur defensiv, um die weitere Beschneidung von Bürgerrechten zu verhindern, sie formieren sich auch zu handlungsfähigen Organisationen, die effiziente Strukturen zur Problembewältigung bilden. Aus den Open-Source-Communities sind längst die wahren Stützen unserer Gesellschaft geworden. Sie bereichern die Gesellschaft, sie bereichern sich nicht an ihr. Ein Großteil der Server, mit denen unsere Kommunikation im Internet abgewickelt wird, läuft mit Open-Source-Betriebssystemen wie Linux und Open-Source-Software wie Apache. Firefox, der meist genutzte Webbrowser, ist ein Open-Source-Produkt. Und es ist die internationale Web-Community CAcert und nicht die Bundesregierung mit ihrem verkorksten De-Mail-System und ihren Bürgerportalen, die vermutlich die Grundlage für eine sichere Kommunikation im Internet legen wird.

Ich war Mitte Mai auf einem CAcert-Assurer-Training und kann das Qualitätsbewusstsein der Community, die sich zurzeit einem Audit unterzieht, nur bewundern. Es wäre wünschenswert, wenn die Bundesregierung beim saisonalen Lob des Ehrenamts die ebenfalls ehrenamtliche Tätigkeit in Open-Source-Communities nicht vergessen würde.

Die für die gesamte Gesellschaft so gewinnbringende Tätigkeit der Open-Source-Communities beweist, dass man nicht darauf warten darf, dass der Staat handelt. Er kann es all zu oft nicht mehr. Die gescheiterten IT-Projekte des Bundes – zugegebenermaßen ein randständiges Thema – beweisen augenfällig, dass er zu einem sinnvoll strukturierten Handeln nicht in der Lage ist. Sein Versagen in anderen Bereichen wird durch Gewöhnung, Aktionismus und die wirtschaftlich immer noch hohe Belastbarkeit unseres Landes kaschiert. So wird das haushälterische Versagen in der Finanzpolitik durch Schulden bemäntelt, die dem Bürger die Handlungsfähigkeit des Staates vortäuschen, obwohl diese in den Schulden längst erstickt wurde. Der die Selbstbedienungsmentalität der Pharmakonzerne, Ärzte und Krankenversicherungen begünstigende Schlendrian in der Gesundheitspolitik wird durch ein Reformieren in Permanenz verschleiert und der Kniefall vor den kurzfristigen Gewinninteressen der Automobilwirtschaft in der Umweltpolitik durch die Umweltprämie. Die Liste kann durch Beispiele aus anderen Ressorts beliebig lang fortgesetzt werden.

Open-Source-Communities wie CAcert entwickeln dagegen abseits staatlicher Planung praktikable Lösungen für grenzüberschreitende Aufgaben, wie zum Beispiel im weltumspannenden Internet eine sichere und vertrauenswürdige Kommunikation zu gewährleisten. Die Regierungen der Staaten sind zu einer solchen Lösung nicht fähig, weil sie nicht an Lösungen, sondern an Communiqués interessiert sind. Lösungen verlangen Arbeit und Anstrengung, etwas, das Regierungen ihren Völkern am wenigsten zumuten wollen. Deshalb wollen die Regierungen auch nichts tun, um das Klima zu schützen. Ihre Wähler könnten sie dafür ja bei der nächsten Wahl in die Verantwortung nehmen, wodurch sich zwar an dem Problem nichts ändert, aber die Nutznießer der Pfründe wechseln.

Doch die Regierungen sind nicht nur unwillig, sie sind in der Tat unfähig, Lösungen anzubieten, da die Ressourcen in der politischen Welt falsch alloziert sind. Der Politik fehlt die fachliche und organisatorische Kompetenz zur Problemlösung, wodurch es ihnen letztendlich auch an der Macht fehlt, eine Lösung umzusetzen. Eintausend über die ganze Welt verteilte IT- und Sicherheitsexperten haben jedoch die Fähigkeit innerhalb kürzester Zeit ein System zu entwickeln, das jedem Internetbenutzer eine sichere Teilnahme am Datenaustausch ermöglicht. Paradoxerweise wird die Qualität des Lösungsansatzes von CAcert ausgerechnet durch die Tatsache befördert, dass die Organisation eben nicht in der Position ist, die vorgeschlagene Lösung allgemein verbindlich zu machen. Die CAcert-Community kann nicht wie eine Regierung per Gesetz oder Verordnung ihr Zertifikat in die Browser bringen, sondern muss überzeugen. Die Qualität von Open-Source-Lösungen liegt darin begründet, dass die Communities keinerlei abstraktes Mandat haben, die Benutzung ihrer Software vorzuschreiben. Sie machen lediglich ein Angebot, über das die Benutzer frei urteilen können. Dieses Vorgehen ist nicht nur sehr viel effizienter, als Lösungsansätze von einer zufälligen politischen Mehrheit abhängig zu machen. Es ist auch der beste Weg zu einer kontinuierlichen Optimierung von Lösungswegen. Kein Programmierer kann zum Beispiel voraussehen, wie eine Software skalieren wird, wenn sie nicht mehr von 100, sondern 100 Millionen Personen genutzt wird; er muss es unter realistischen Bedingungen testen und die Software kontinuierlich veränderten Anforderungen anpassen.

Die Erfolgsgeheimnisse freier Software

Die Erfolgsgeheimnisse freier Software sind vielfach untersucht worden. Software-Communities realisieren in ihrer Praxis den Gedanken der Selbsthilfe, da sie die Werkzeuge, die sie selbst benötigen, selbst herstellen. Sie haben daher ein dringendes Interesse an der Qualität ihrer Lösungen, da sie sie selbst als erste anwenden. Die Zahl der Anwender wächst mit der Qualität der Software, wobei mit Qualität hier eine jeweils sehr individuell definierte Anwendungsfreundlichkeit gemeint ist. Ein Lösungsansatz, der viele Anwender überzeugt, gewinnt dadurch an Schwung und kann aufgrund des hohen Zulaufs an aktiven Mitarbeitern zu einer komplexen Lösung ausgebaut werden. Es entsteht so ein sich selbst tragender und sich selbst ausdifferenzierender Ansatz – auch wenn man natürlich Massenphänomene, die letztlich ins Leere laufen und im Netz unter dem Begriff des Hypes summiert werden, nicht unterschätzen darf. Die weiteren Erfolgsgaranten freier und offener Software sind das Testen durch sehr viele Anwender, der direkte Zugriff auf den Quellcode, das Streben nach offenen Schnittstellen zur Interoperabilität, die Akkumulation von Wissen und Know-how in den Software-Communities und die Schwarm-Intelligenz.

BRD 60 / Teil 4: Die Open-Source-Gesundheitsreform

Es wäre nicht nur einen Versuch wert, die Problemlösungsmethoden von Open-Source-Communities bei komplexen gesellschaftlichen und politischen Problemen in Anschlag zu bringen – es ist höchste Zeit dafür.

So ist niemand besser geeignet, ein funktionierendes Gesundheitssystem zu entwickeln als der gesetzlich Versicherte selbst, da er die Leistung nicht nur empfängt, sondern sie auch bezahlen muss. Niemand ist stärker an einer langfristigen und guten Lösung interessiert als er. Denn er steht nicht wie die so genannten Experten im Sold einer der vielen Interessensgruppen. Die Versicherten selbst würden ein Gesundheitssystem aufbauen, in dem die begrenzten Ressourcen optimal alloziert würden, da sie einerseits an einer guten Versorgung und andererseits an niedrigen Kosten interessiert sind. Sie empfangen die Leistungen und müssen die Kosten dafür aufbringen. Eine bessere Voraussetzung für optimale Lösungsansätze gibt es nicht. Mit den heutigen Mitteln der Zusammenarbeit im Internet könnte man gewiss sein, in kürzester eine Auswahl belastbarer Lösungen begutachten und testen zu können. Da diese Mittel im Web kostenlos zur Verfügung stehen, könnten die Versicherten heute damit beginnen, das Gesundheitssystem von morgen zu entwickeln, ohne auf ihre Politiker zu warten, die in Jahrzehnten keine Lösung zustande gebracht haben.

Was eine bessere Gesundheitspolitik garantieren würde, wird auch auf anderen Problemfeldern den Knoten lösen. Wer ist in der Lage ein gerechtes und effizientes Steuersystem einzuführen, wenn nicht der Steuerzahler, der Nutznießer staatlicher Leistungen ist, diese aber zur gleichen Zeit auch bezahlen muss? Wer könnte effizienteres Bildungssystem etablieren als diejenigen die Lernen und Lehren? Und wer böte größere soziale Sicherheit bei größtmöglicher Effizienz, wenn nicht derjenige, der auf Hilfe angewiesen ist und der, der sie geben soll? Man darf die Verantwortung für die Lösung nur nicht aus der Hand geben!

Das Argument, dass die Betroffenen nicht in der Lage seien, das Ganze zu überschauen, gilt im Zeitalter der Schwarmintelligenz nicht mehr. Ebenso ungültig ist das Argument, dass der Bürger seine Angelegenheiten gar nicht selbst in die Hand nehmen wolle. Mit diesen beiden Argumenten versucht Microsoft seine Anwender zu knebeln. Der Konzern behauptet bis heute, die Bedürfnisse des Anwenders besser zu kennen als der Anwender selbst; ganz sicher aber wolle der Anwender sich nicht um die Entwicklung der Anwendung kümmern! Letzteres mag oft richtig sein. Der durchschnittliche Benutzer will den Computer benutzen, nicht verstehen. Doch mit der Selbstständigkeit wächst nicht nur der Handlungsspielraum, sondern auch der Wille zur Tätigkeit. Als die Anwender entdeckten, dass sie im Open-Source-Bereich mehr Freiheit und Handlungsspielraum hatten, haben sie diesen auch im wachsenden Maße genutzt. Der isolierte Nerd wurde zum geselligen Geek, aus der Hartnäckigkeit Einzelner ein Massenphänomen.

Was fehlt ist der schlichte Entschluss

Sobald die Versicherten, die Steuerzahler, die Lernenden und Lehrenden, die Hilfesuchenden und Hilfegebenden erkennen, dass sie an einem Lösungsansatz mitarbeiten können, den keine Partei und keine Lobby mehr vom Tisch wischen können, werden sie ihren Spielraum auch aktiv nutzen. Schneller und nachdrücklicher als unseren Politikern lieb sein wird.

Den Entschluss dazu kann ihnen niemand abnehmen. So wie kein anderer besser dazu befähigt ist, ein effizientes Gesundheitssystem aufzubauen, als der Versicherte selbst, genauso ist niemand anders in der Lage, den Prozess der offenen Problemlösung in Gang zu setzen als eben diese Versicherten. Nur wenn sie selbst die Spielregeln festlegen, unter denen sie eine oder mehrere Lösungen entwickeln, werden sie die Lösungsansätze auch als die ihrigen akzeptieren. Kein Politiker, kein Staat kann dies mit einer werbewirksamen Open Politics Aktion übernehmen. Das Neue kann nur auf Trümmern entstehen. Erst wenn sich die Hoffnung auf Lösungen innerhalb unserer politischen Strukturen wie das Deutsche Reich 1945 in Rauch aufgelöst hat, werden die Bürger ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Dieser Zeitpunkt ist hoffentlich bald gekommen.