Parteien sind ein Konzept des 20. Jahrhunderts
Die Sozialdemokratie entstand bereits im vorletzten Jahrhundert. Alle anderen zur Zeit im Bundestag vertretenen Parteien sind ausnahmslos im 20. Jahrhundert gegründet worden. Die Grünen bilden die jüngste Neugründung, da sich die Linke vermögenswirksam als Nachfolgepartei der SED begreift und daher verdammt alt ist. Und obwohl Parteien offensichtlich ein Konzept des 20. Jahrhunderts sind, hat sich im 21. Jahrhundert dennoch eine neue Partei gegründet, die zukünftig einigen Einfluss haben dürfte: die Piratenpartei.
Den Parteien laufen die Mitglieder weg. Das ist kein Wunder. Wer will schon von der Wiege bis zur Bahre die krude Programmatik einer bestimmten Partei nachplappern – außer wenn er die parteipolitische Versorgungslaufbahn einschlagen möchte. Das hat natürlich Folgen. Aktive Parteimitglieder sehen aus wie Zuwendungsempfänger. Das reicht von den Berufssöhnen in CDU und FDP bis zu den Politologen, Sozialpädagogen und Lehrern bei der SPD und den Grünen. Jüngst zeigten sie sich wieder in der Öffentlichkeit, an ihren Infotischen in den Fußgängerzonen.
Die Fernsehauftritte von bereits gut versorgten Politikern tragen keineswegs dazu bei, den schlechten Ruf dieser Kaste zu heben. Die Kernkompetenz von Politikern ist die eigene Wiederwahl. Das liegt in der Natur des politischen Ökosystems. Politik ist eine Lebensstellung mit Pensionsansprüchen, die einzig und allein durch Seilschaften und Wahlgeschenke zu erringen ist. Der einzelne Politiker ist daher ein blasses schafsähnliches Wesen, die Partei dagegen ein Wolf, der öffentliche Kassen plündert, um die Horde und die Klientel zu versorgen. Die Staatsverschuldung kann in einer repräsentativen Demokratie nie sinken, weil die Partei, die sie senken würde, spätestens nach vier Jahren aus dem Amt gejagt würde.
Ihre Legitimation schöpfen Parteien aus praktischen Erwägungen. Das ganze Volk geht nicht in den Reichstag hinein. Deshalb müssen Vertreter gewählt werden. Natürlich sind Parteipolitiker die denkbar schlechteste Vertretung, aber sie haben einen mächtigen PR-Apparat hinter sich, der von der Parteizentrale bis zu den lukrativen mit Parteimitgliedern besetzten Posten in den Medien reicht. Deshalb sitzt kein unabhängiger Abgeordneter im Bundestag.
Dabei brauchen wir die repräsentative Demokratie gar nicht mehr. Jeder, der einen Internetanschluss besitzt, könnte Teil der Legislativen werden. Das elektronische Dorf ist so klein, dass jeder mit entscheiden könnte. Uns hält bloß die Gewohnheit davon ab, die Legislative in die eigene Hand zu nehmen. Diese Gewohnheit gilt es in diesem Jahrhundert abzulegen.
Da mutet es seltsam an, wenn Internet-Aktivisten eine neue Partei gründen, anstatt mit der Parteipolitik und der repräsentativen Demokratie zu brechen. Und die Piraten sind eine Partei im wahrsten Sinne des Wortes! Sie sind Partei, d.h. sie vertreten ihre eigenen Interessen, weil sie sich – mit Recht! – von den etablierten Parteien verraten und verkauft fühlen. Die Perfidie und Dreistigkeit, mit der CDU/CSU und SPD das Internet unter ihre Kontrolle zwingen wollen, ist beispiellos.
Das ist übrigens ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Versorgungspolitiker erkannt haben, dass das Internet die Macht besitzt, die repräsentative Demokratie zu überwinden, was ihnen, den Politikern, den Gar aus machen würde. Deshalb hassen die Internetausdrucker das Internet. Sie spüren instinktiv, dass es sie früher oder später überflüssig macht.
Warum also gründen die Internetaktivisten dann eine Partei und sammeln Unterschriften, um zur Wahl zugelassen zu werden? Ist es der Wunsch, sich nicht mehr von den Internetausdruckern verarschen zu lassen? Die Notwendigkeit, Themen aufzugreifen, die von den anderen Parteien vernachlässigt werden? Ihre politische Agenda lässt genau das vermuten. Das ist natürlich nicht genug, um sich dauerhaft zu etablieren. Ihr thematischer Fokus wird sich – wie bei den Grünen – erweitern müssen.
Noch wirkungsvoller wäre es jedoch, wenn die Piraten die direkte Demokratie in ihrer Arbeit integrieren würden, wenn sie beispielsweise Gesetzesinitiativen mit Hilfe offener Internettechnologien wie Wikis formulieren würden, sodass sich jeder Bürger beteiligen kann.
Die repräsentative Demokratie ist Vergangenheit. Die Zukunft unserer Demokratie liegt in einer modifizierten Form der direkten Demokratie, der Beteiligungsdemokratie. Nur wenn sich alle Interessierten direkt beteiligen können, sind die strukturellen Probleme unseres Landes überhaupt zu lösen. Crowdsourcing heißt das Buzzword. Wenn es den Piraten gelingt, Crowdsourcing in der Politik zu etablieren, wären wir einen entscheidenden Schritt weiter.
Die Piratenpartei versteht sich als internationale Bewegung, was allein schon durch die thematische Ausrichtung naheliegt. Da die Bedeutung von Parteien in den verschiedenen Ländern teilweise sehr unterschiedlich ist, wird es interessant sein, die jeweils nationale Entwicklung der Piraten zu verfolgen. Neben der »Freiheit der Netze« wäre das Crowdsourcing zentraler Politikfelder ein Element, das sich als transnationales Thema mit hoher Integrationskraft anbieten würde.