Herzlich Willkommen auf dem größten Tatort der Welt
Lieber Besucher des Sudelbuchs, Sie befinden sich hier, nach Einschätzung des Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, auf dem größten Tatort der Welt: dem Internet. Allein im deutschsprachigen Netz müssen demnach im letzten Jahr mehr als 2.266 Personen ermordet, mehr als 7.292 vergewaltigt oder sexuell genötigt und mehr als 49.913 beraubt worden sein. Hinzu kommen mehr als 151.208 schwere und mehr als 367.291 leichte Körperverletzungen. Können Sie sich vorstellen, wie das hier im Sudelbuch an manchen Tagen aussah?
Überall Blut und abgetrennte Körperteile, die furchtbaren Schreie, die Schüsse und Messerstechereien! Ständig heulten Sirenen von Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei durchs Glasfaserkabel. Megabytes an Gerichtsmedizinern, die DNA zusammenkratzten. Kilobytes Polizeipsychologen, die sich um die Opfer und ihre Angehörigen kümmerten. Und natürlich da-di-di-dum, der Kommissar ging um. Die 350 Morde, die jeden Abend im deutschen Fernsehen über die Mattscheiben flimmern, sind nichts gegen die hemmungslosen Gewaltorgien auf dem größten Tatort der Welt. Und ich immer mittendrin!
Wie oft musste ich Eimer und Aufnehmer in die Hand nehmen und, nachdem alle Spuren gesichert waren, wieder sauber machen. Ekelhaft! Hier passiert jeden Tag hinter jedem Link ein Gewaltverbrechen. Hier im Sudelbuch sind schon alle Links ganz rot vor Blut. Wer hier nachts allein unterwegs ist, muss Nerven wie Dirty Harry haben. Wenn sie diese Zeilen also mitten in der Nacht lesen und das Gefühl haben, dass ihnen jemand dabei zuschaut, dann nehmen Sie den Hinterausgang und verschwinden sie ganz schnell in die heile Welt da draußen, in der sich die Polizisten zu Tode langweilen.
Wenn Sie weiterlesen, dann halten Sie Ihre Handtasche fest. Denn hier kommt dauernd etwas weg. Die 2.443.280 Diebstähle in Deutschland sind nichts gegen die Buchstaben, die mir hier im Sudelbuch in den letzten Jahren gestohlen wurden. Sie haben einen Satz noch nicht ganz beendet, da hat schon jemand hinter ihrem Rücken oder vor ihren Augen die Buchstaben geklaut und verwendet sie irgendwo auf zweifelhaften Webseiten, vor denen hoffentlich bald ein solides Stoppschild steht.
Mehr als 210.885 Gewalttaten müssen 2008 im Internet geschehen sein, eine genaue Zahl nannte Rainer Wendt von der Polizeigewerkschaft nicht. Aber so viele Raubüberfälle, Morde und Vergewaltigungen passierten allein in Deutschland, einem vergleichsweise klitzekleinen Tatörtchen. Das Internet ist dagegen ist riesengroß und unübersichtlich, mit vielen dunklen Ecken, in denen sich Räuber, Mörder und Diebe gut verstecken können. Was hier passiert, geht auf keine Kuhhaut. Die Morde der italienischen, russischen oder albanischen Mafia sind dagegen romantische Meinungsverschiedenheiten in temperamentvollen Familien. Die Weltkriege, Vietnam, der Nahe Osten, Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Ruanda – das war die gute alte Zeit, die waren die idyllischen Massenmorde der Vergangenheit. Im Vergleich zum Internet ist das Kiezkriminalität. Jetzt gibt es das Internet, den größten Tatort der Welt, jetzt kommt Auschwitz 2.0!
Wie gut, dass es Männer wie Rainer Wendt gibt, die uns aufrütteln, die die Massengräber öffnen und die Netizens aus der Hölle befreien. Wie oft habe ich in einem unbeobachteten Moment kleine Papierzettelchen fallen lassen, in der Hoffnung, dass jemand sie findet, und mich hier aus dem Keller herausholt. Doch niemand kam! Jetzt aber steht bald Rainer Wendt mit seinen 2000 Cyber-Cops vor der Tür und stürmt die Festplatte.
Als erstes wird Herr Wendt jedoch die Kriminalstatistik umschreiben müssen, denn die verzeichnet 2008 nur 63.642 Fälle von Computerkriminalität. Da hat jemand beide Augen zugedrückt! Oder die Polizei musste jeden Fall erst einmal ausdrucken, bevor sie ihn bearbeiten konnte. Die Dunkelziffer muss jedenfalls alle Vorstellungen sprengen, oder Herr Wendt redet wirr, was ich mir bei einem Gewerkschaftsvorsitzenden und Polizisten nicht vorstellen mag. Die alte Statistik verzeichnet auch nur 2.255.693 Tatverdächtige im Jahr 2008. Dass diese Zahl geschönt ist, sieht ein Blinder. Allein in Deutschland leben 82.046.000 Menschen, davon bewegen sich 67,1 % auf dem größten Tatort der Welt. Das sind 55.052.866 Tatverdächtige.
Herr Wendt, wie wollen Sie das mit 2000 Cyper-Cops schaffen?