Die vier Säulen der Piratenbildung (Teil 2) Weiterführende Schulen

Nachdem Kindergarten und Grundschule dafür sorgen, dass wenigstens die herkunftsbedingten Unterschiede weitestgehend beseitigt werden, sollen nun alle Schüler die Chance haben, ohne Schulwechsel das Abitur anzustreben. Um sowohl starke Schüler als auch schwache Schüler intensiv zu fördern, werden Klassen abgeschafft und durch ein flexibles Kurssystem ersetzt.

Individuelle Förderung durch fließende Schullaufbahn in einem eingliedrigen Schulsystem

In diversen internationalen Studien (TIMSS, DESI, PISA) wurde festgestellt, dass sich die mathematischen und sprachlichen Leistungen von Hauptschülern, Realschülern und Gymnasiasten teilweise überschneiden, das heißt, dass es in allen drei Schulformen sehr schlechte und sehr gute Schüler gibt. Die prozentuale Verteilung variiert natürlich. Trotzdem wird deutlich, dass bei weitem nicht die Leistungsfähigkeit eines Schülers darüber entscheidet, welchen Bildungsweg er einschlägt, sondern andere Faktoren.

»Hieraus schließt die UNICEF-Studie “Disadvantages In Rich Nations”, dass die Kinder in Deutschland zu früh und falsch sortiert werden. Die Studie fasste die Situation in Deutschland unter dem Titel: “Germany: Children Sorted For A Life” (Deutschland: Kinder für ihr ganzes Leben einsortiert) zusammen, um zu verdeutlichen, dass diese frühe Einsortierung kaum rückgängig zu machen ist. Die PISA-Sonderstudie zu Erfolgschancen von Migrantenkindern kritisiert ebenfalls das deutsche Bildungssystem. Migrantenkinder der zweiten Generation, also Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland geboren sind, aber ausländische Eltern haben, erbringen noch schlechtere Leistungen als Migrantenkinder der ersten Generation; 40% von ihnen erreichen nicht die Kompetenzstufe 2.«1

Die Mahnungen der internationalen Studien sind unüberhörbar: das dreigliedrige Schulsystem ist ein Klassensystem, dass nicht die Leistungsfähigkeit fördert, sondern die sozialen Verhältnisse zementiert. Wer die nachfolgenden Generationen optimal fördern will, muss dieses System abschaffen. Im Programm der Piratenpartei NRW wird daher unter Hinweis auf die PISA-Spitzenreiter die Einführung eines eingliedrigen Schulsystems empfohlen:

»Da sich die eingliedrigen Schulsysteme der PISA-Spitzenreiter Finnland und Kanada in der Vergangenheit als leistungsfähiger erwiesen haben und wir das Ziel verfolgen, die Zahl der Abiturienten pro Jahrgang zu vervielfachen, schlagen die NRW-Piraten ein eingliedriges Schulsystem vor, dessen vorrangiges Ziel es ist, möglichst viele Schüler zur Hochschulreife zu führen. Das bisherige viergliedrige System, bestehend aus Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule selektiert zu früh und fördert zu wenig. Alle Schüler sollen grundsätzlich die Möglichkeit haben, ohne Schulwechsel das Abitur anzusteuern.«2

Abstimmung mit den Füßen

Diese Forderung der Piratenpartei NRW wird von vielen Menschen geteilt. Die Gesamtschulen in NRW verzeichnen seit Jahren einen großen Zulauf, der so groß ist, dass an vielen Orten die Einrichtung weiterer Gesamtschulen gefordert wird. Die Hauptschule wird von den meisten Eltern als Restschule betrachtet und damit gemieden. Stellenweise müssen Hauptschulen sogar schließen, weil sie kaum noch Zulauf haben. Die Abstimmung mit den Füßen hin zu einem eingliedrigen Schulsystem ist längst erfolgt.

Vorbehalte gegen ein eingliedriges Schulsystem

Es gibt jedoch auch Vorbehalte gegen ein eingliedriges System. Wer seine Kinder auf ein Gymnasium schickt, befürchtet vielfach, dass in einem eingliedrigen Schulsystem ein Absinken des Niveaus unvermeidlich ist. Immerhin würden Gymnasiasten dann gemeinsam mit Schülern unterrichtet, die lediglich Haupt- oder Realschulniveau besitzen. Die Vorbehalte dieser Eltern gegen ein eingliedriges Schulsystem als Standesdünkel abzutun, wäre zu kurz gedacht und wird den Bedenken der Eltern nicht gerecht.

Die Piratenpartei NRW ist sich wohl bewusst, dass in einem eingliedrigen Schulsystem, dass personell ebenso schlecht ausgestattet ist, wie das aktuelle System die Gefahr eines niveaulosen Einheitsbreis sehr hoch ist. Deshalb fordert die Piratenpartei auch sehr viel mehr als bloß eine ›Einheitsschule‹.

Individuelle Förderung, gezielte Betreuung

Wenn man sehr gute und sehr schlechte Schüler in einer gemeinsamen Schulform unterrichten will, benötigt man sehr viel mehr individuelle Förderung als in Gesamtschulen bisher geleistet werden kann. Zudem würden in einem eingliedrigen Schulsystem alle sozialen Probleme in einem gemeinsamen Haus ausgetragen.

Die Piratenpartei fordert daher ein schulinternes System der individuellen Förderung:

»Durch den Aufbau eines schulinternen Fördersystem sollen Schüler, deren Leistung nicht befriedigend ist, individuell unterstützt werden. Die dafür zusätzlich benötigten Lehrkräfte sind sofort einzustellen.

Die Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer durch nicht-lehrendes Personal ist eine wesentliche Vorraussetzung für die Umsetzung der individuellen Förderung. Um einen Unterricht zu gewährleisten, der allen Schülern gerecht wird, darf die Klassen- bzw. Kursgröße in den Sekundarstufen I und II maximal 15 Schüler betragen. Dort wo es pädagogisch notwendig ist, wie in speziellen Fördergruppen, muss diese Zahl entsprechend niedriger sein.«3

Wie man sieht, will die Piratenpartei NRW das schulinterne Fördersystem bereits bei nicht befriedigenden Leistungen. Dies zeigt, dass die Piraten für alle Schüler ein Leistungsniveau anstreben, dass über dem Durchschnitt der aktuellen Schülergeneration liegt.

Ferner ist es der Piratenpartei NRW wichtig, dass soziale Probleme auch als solche von Spezialisten behandelt werden – nicht vom Lehrpersonal. Damit werden nicht nur die Lehrer entlastet. Die Schüler bekommen auch zusätzliche neutrale Ansprechpartner, der keine Schulnoten vergeben, sondern für alle Probleme da sind, die nichts mit der Lernsituation zu tun haben.

Fließende Schullaufbahn

Die Piratenpartei geht jedoch noch einen Schritt weiter. Sie möchte gewährleisten, dass erstens besonders begabte Schüler in diesem eingliedrigen Schulsystem sich frei entfalten können und zweitens weniger leistungsfähige Schüler die Möglichkeit bekommen, Schwächen in einzelnen Fächern ohne Wiederholung einer Klasse auszubügeln.

Im Kern stellt sich hier die Frage, nach wie vielen Jahren ein Schüler das Abitur oder einen anderen Abschluss erreichen soll. Die Einführung von G8 (Abitur nach acht Jahren in der weiterführenden Schule) hat gezeigt, dass eine pauschale Verkürzung der Schulzeit kein einziges Problem löst, aber viele Probleme verschärft und viele neue Probleme schafft. In der verkürzten Schulzeit lässt sich Chancengleichheit noch weniger realisieren als vorher. G8 wird also vermutlich die soziale Spaltung in der Bildung noch weiter verschärfen. Diesem Einheitsbrei setzt die Piratenpartei das Modell einer fließenden Schullaufbahn gegenüber.

»Jeder Schüler soll die Möglichkeit haben, seine Schullaufbahn individuell zu planen und fließend zu absolvieren. Auch bei einer umfassenden Beseitigung von herkunftsbedingten Leistungsunterschieden wird es immer Unterschiede im Leistungsniveau der Schüler geben. Dies gilt es in der Sekundarstufe I zu berücksichtigen. Die NRW-Piraten schlagen deshalb eine Schule der unterschiedlichen Geschwindigkeiten vor. Dazu werden die Klassenverbände nach einer zweijährigen Orientierungstufe zugunsten eines flexiblen Kurssystems aufgelöst. Ein flexibles Kurssystem löst zahlreiche Probleme des existierenden Klassensystems. Mangelhafte Leistungen in einer bestimmten Zahl von Fächern haben nicht mehr die Wiederholung der Klasse zur Folge, sondern lediglich die Wiederholung der mangelhaft abgeschlossenen Kurse. Umgekehrt werden besonders leistungsfähige Schüler nicht mehr unterfordert oder zum Überspringen einer ganzen Klassen gezwungen, sondern können Kurse wählen, die ihrer Leistungsfähigkeit entsprechen. Der Übergang in die Sekundarstufe II erfolgt fließend, sobald die entsprechende Zahl von Kursen der Sekundarstufe I erfolgreich abgeschlossen wurde. Damit wird auch die Problematik von G9 und G8 vermieden. Wenn mehrere Kurse derselben Leistungsstufe angeboten werden und der Schüler den Kurs und damit auch den Lehrer frei wählen kann, werden überdies viele Probleme vermieden, die allein daraus entstehen, dass die Schüler keinen Einfluss darauf haben, welche Lehrkraft sie unterrichtet.4

Durch die fließende Schullaufbahn werden also gleich mehrere Probleme gelöst:

  1. Schüler, die ein langsames Lerntempo benötigen, können durch die Wahl von Förderkursen bzw. die Inanspruchnahme des schulinternen Fördersystems, ihr Wissen und ihre Kompetenzen vertiefen, bevor sie Kurse eines höheren Leistungsniveaus belegen. Sie können die Zahl der Kurse pro Schuljahr ihrer Leistungsfähigkeit anpassen.
  2. Wird ein Kurs nicht erfolgreich abgeschlossen, muss lediglich der einzelne Kurs, nicht aber die gesamte Jahrgangsstufe wiederholt werden. Die völlig unsinnige Wiederholung eines bereits gelernten Stoffes in den nicht mangelhaften Fächern wird vermieden, Außerdem erfolgt keine Stigmatisierung als Sitzenbleiber.
  3. Sehr gute und hoch begabte Schüler können die erforderlichen Kurse in sehr viel kürzerer Zeit absolvieren und ihr Abitur vorzeitig ablegen. Ein sozial oftmals hoch problematisches Überspringen der Klasse wird vermieden.
  4. Schüler, die nur in bestimmten Fächern außerordentliche Leistungen erbringen, können in diesen Fächern ihr Pensum schneller bewältigen. In allen anderen Fächern gehen sie weiterhin mit normalem Tempo vorwärts. So gelingt es, dass zum Beispiel mathematisch hoch begabte Schüler mit Schwächen im sprachlichen Bereich jeweils leistungsgerecht behandelt werden. Sie erhalten sowohl eine positive Bestätigung in ihrem ›Leistungsfach‹ als auch die notwendige Förderung in ihren schwachen oder durchschnittlichen Fächern.
  5. Die Problemstellung eines starr auf G8 oder G9 ausgerichteten Schulsystems erledigt sich von selbst.
  6. Durch die freie Kurswahl haben die Schüler – ähnlich wie an der Universität – eine in Grenzen freie Lehrerwahl. Damit wird die Zwangsgemeinschaft von Lehrern und Schülern gelockert und viele Probleme, die sich daraus ergeben von Anfang an vermieden. Wie viel Energie wird heute beispielsweise verschwendet, wenn Eltern und Schüler versuchen für ihre Klasse einen neuen Lehrer zu bekommen, wenn der aktuell zugeteilte Lehrer sich als ungeeignet erweist?

Damit wird deutlich, dass mit der Einführung eines eingliedrigen Schulsystems keine Nivellierung der Leistung auf niedrigem Stand einhergeht, sondern ganz im Gegenteil die individuelle Ausdifferenzierung von Kompetenzen sehr viel stärker gefördert wird. Diese Ausdifferenzierung ist jedoch dann nicht mehr die Folge herkunftsbedingter Unterschiede, sondern die Folge individueller Neigungen und Fähigkeiten der Schüler.

Dadurch wird es möglich, die Potenziale, die es gibt, gezielt zu verwirklichen. Kein Schüler wird abgeschrieben, es wird aber auch keine Begabung einfach übergangen. Über- und unterforderte Schüler gehören dann der Vergangenheit an. Durch die Wahl von Kursen mit angemessenen Leistungsanforderungen erhält jeder Schüler motivierende Leistungsanreize durch echte Erfolgserlebnisse. Das setzt eine positive Leistungsspirale in Gang, durch die das Bildungsniveau insgesamt ansteigt. Und dies ist das erklärte Ziel der Piratenpartei NRW.

Die vier Säulen der Piratenbildung (Teil 3) Hochschulen

Literatur

NRW-Web:Wahlprogramm Landtagswahl NRW 2010 – Piratenwiki. 2010. Internet: http://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Wahlprogramm_Landtagswahl_NRW_2010#Volksentscheid. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Fußnoten


  1. NRW-Web:Wahlprogramm Landtagswahl NRW 2010 – Piratenwiki. 2010. Internet: http://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Wahlprogramm_Landtagswahl_NRW_2010#Volksentscheid. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎

  2. Ebd. ↩︎

  3. Ebd. ↩︎

  4. Ebd. ↩︎