Gott ist ein Wort: für eine Sprachenfolgenforschung

Gott kommt in den Gleichungen der Naturwissenschaftler nicht vor, nicht einmal als Unbekannte. Gott ist ein Phänomen der Sprache. Ausschließlich in ihr existiert er. Wenn man nicht mehr von Gott spricht, hört er auf zu existieren. Damit das nicht passiert, versucht die Kirche Kindern möglichst frühzeitig von Gott zu erzählen. Gott ist ein Wort: für eine Sprachenfolgenforschung

Je früher man in die frischen aufnahmebereiten Gehirne die Erzählung von Gott impft, um so tiefer kann man das falsche Wort verankern. Dies ist intellektueller Missbrauch jungfräulicher Köpfe und der Kirche ein wichtiges Anliegen. Denn wenn nicht mehr von Gott gesprochen würde, verlöre sie ihre Macht über die Menschen. Sie würde aufhören zu existieren. Denn ihre Macht basiert lediglich auf einem Wort. Wir können es aus unserem Wortschatz streichen, ohne dass uns etwas fehlt, denn außerhalb der Sprache gibt es keinen Gott. Es gäbe nichts, wofür uns ein Wort fehlen würde, wenn wir es nicht mehr benutzten.

Diese Erkenntnis ist erschütternd. Nicht weil wir uns plötzlich in einer gottlosen Welt zurechtfinden müssten – das tut der Mensch seit jeher – erschütternd ist vielmehr die Erkenntnis, dass die Sprache eine solche totalitäre Macht hat. Sie bringt Menschen dazu, andere Menschen zu foltern, zu steinigen, zu verbrennen. Die Erzählung von Gott hat den Terror des Glaubens geboren, die Angst vor der ewigen Verdammnis. Sie schuf die Keller, die Blutgerüste und die Scheiterhaufen der Inquisition. Sie lenkt die Schritte der Selbstmordattentäter hin zu den belebtesten Plätzen. Sie hat Reiche begründet und niedergerissen. Sie hat Massaker und Pogrome organisiert.

»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott«, heißt es hellsichtig im Evangelium des Johannes. Und der Spuk wäre endlich zu Ende, wenn wir das Wort nicht mehr benutzen würden.

Denn nur was einen Namen hat, ist da. Im ersten der zehn Gebote heißt es daher »Ich bin JHWH, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Damit war die Erzählung über Gott eröffnet. Gleichzeitig ist für das Judentum der Name Gottes unaussprechlich. Die Macht der Sprache wird damit jedoch nicht untergraben, sondern im Gegenteil durch den Schutz vor der Profanierung sogar noch gesteigert. Der Islam huldigt dagegen der Macht der Sprache, indem er die bildliche Darstellung Gottes verbietet – und damit etwas untersagt, was ohnehin nicht möglich ist. Denn wie will man etwas darstellen, was außerhalb der Sprache gar nicht existiert?

Die Naturwissenschaft misstraut der Sprache, die Nichtseiendes als Seiendes ausgibt und mit ihren mäandernden Konnotationen das Festhalten an einer klaren begrifflichen Erkenntnis unmöglich macht. Die Naturwissenschaft umgeht die Sprache daher und nutzt mathematische Formeln. Und seitdem sie dies tut, ist unser Wissen über die Natur förmlich explodiert. Gleichzeitig haben wir dadurch das Instrument des Verstehens aus der Hand gelegt. Denn nach Gadamer ist Sein, das man verstehen kann, Sprache. Man muss die Einheit von Sein und Sprache, die Gadamer hier postuliert, ernst nehmen und nicht nur als Paraphrase des historischen Wahrheitsbegriffes missverstehen. Im Erleben von Erkenntnis wird die Sprache mit dem Sein eins. Es ist also nicht rein logische Wahrheit, sondern Gewissheit gemeint. Die Sprache macht das, was sie ausspricht, gewiss. Darin liegt ihre gefährliche Kreativität begründet. Und die Kirche weiß selbstverständlich darum, weshalb ihre Rede von Gott vorsätzlicher Betrug ist. Denn wer von Gott spricht, handelt nicht nur intellektuell unredlich, weil er die Kreativität der Sprache missbraucht, um Nichtseiendes sein zu lassen (Achtung Wortspiel!), er legt auch die Grundlagen für Verbrechen im Namen dieses Nichtseienden.

Die Gewissheit im Verstehen, die durch die Einheit von Sein und Sprache oder die seinsbildende Kraft der Sprache vollzogen wird, ist jedoch nicht falsifizierbar, weshalb sie in der Wissenschaft nichts zu suchen hat. Die Naturwissenschaft flieht vor dem Verstehen in die Mathematik, denn nur hier ist Falsifizierung möglich, nur hier ist Wahrheit und Erkenntnis ohne Gewissheit möglich. Die sokratische Bescheidenheitsfloskel vom Wissen ums Nichtwissen wird so zum Perpetuum mobile der modernen Wissenschaft. Jedes Modell ist falsifizierbar und muss daher ständig durch ein neues, besseres ersetzt werden. Keine wissenschaftliche ›Wahrheit‹ ist gewiss oder anders ausgedrückt: auf keiner wissenschaftlichen ›Wahrheit‹ lastet der Totalitarismus der Gewissheit.

Die Flucht vor der Sprache in die Mathematik ist aber zum Scheitern verurteilt. Ganz ohne Sprache kommt die Wissenschaft nicht aus. Vor den mäandernden Konnotationen der Sprache schützt sie sich durch Fachbegriffe, die nicht nur dem Laien unverständlich sind, sondern überhaupt ›ein Verstehen‹ außerhalb des definierten Modellrahmens verhindern sollen. Doch die seinsbildende Kraft der Sprache ist so stark, dass selbst Fachbegriffe das ›Verstehen‹ nicht mehr verhindern können und wir Modellen Sein zusprechen. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem vermehrte Anstrengungen nötig werden, um Götzen vom Thron zu stoßen.

Der Ausschluss der Laien aus der Wissenschaft ist eine Herausforderung. Wissenschaftliche Erkenntnisse mitzuteilen, ist schwer – der hemdsärmelige Wissenschaftsjournalismus, der hier das Feld beherrscht, läuft Gefahr, entweder die Ungewissheit wissenschaftlicher Erkenntnis in ein wortreiches Kaleidoskop der Beliebigkeit zu verwandeln oder, bei dem Versuch, die ›Geheimnisse der Wissenschaft‹ verstehbar zu machen, Modellen ein Sein zuzusprechen, das ihnen nicht zukommt. Und dass der Mittelweg golden wäre, halte ich keineswegs für ausgemacht.

Was wir brauchen, ist eine sprachliche Risikoforschung. Wir sollten in der Lage sein, die Folgen des Sprachgebrauchs besser abzuschätzen. Wir entziehen schrottreifen Autos die Betriebserlaubnis, weil ihr Gebrauch im Straßenverkehr ein tödliches Risiko darstellt. Ein völlig veraltetes Buch über die Entstehung der Welt ziehen wir jedoch nicht aus dem Verkehr. Wie viele Menschenleben könnten gerettet werden, wenn man das Buch nur noch mit den Augen eines Historikers lesen würde? Wir wissen es nicht. Weil eine Risikoforschung für Worte noch nicht existiert. Verantwortungsvolle Eltern versuchen, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie nicht mit dem Rauchen anfangen, weil die Risiken des Rauchens wissenschaftlich erforscht wurden und mittlerweile allgemein bekannt sind. Aber die gleichen Eltern erzählen ihren Kindern von Gott, obwohl ein Blick in die Geschichtsbücher und die Tageszeitungen ihnen sagen müsste, dass die Risiken des Glaubens keinesfalls gering sind. Wir können die individuellen und gesellschaftlichen Schäden nur noch nicht genau beziffern. Die jahrtausendealte Wissenschaft der Rhetorik gibt uns zwar Methoden an die Hand, den verschleiernden Sprachgebrauch von Politikern und Interessengruppen zu offenbaren. Wir sind aber noch nicht in der Lage, die Schäden, die er anrichtet, zu berechnen. Hier wäre eine Sprachenfolgenforschung sehr hilfreich.