Der Rücktritt
Das Ende von Horst Köhlers Präsidentschaft ist genauso absurd wie ihr Beginn in Westerwelles Küche. Wir erleben gerade die Demontage einer der letzten Fiktionen der alten Bundesrepublik – die Existenz eines überparteilichen, rein repräsentativen Präsidenten – durch den Amtsträger selbst.
Köhlers Begründung für seinen sofortigen Rücktritt ist haarsträubend. Ein Präsident, der in seine Sonntagsredenwelt hinausposaunt hat, er wolle ein politischer Präsident sein, zieht sich beleidigt zurück, weil der Souverän des Staates an einer seiner Äußerungen Kritik übte. Ich schreibe bewusst ›Souverän des Staates‹, denn es waren gewählte Politiker, Journalisten, Blogger und sicher viele Bürger, die in Stellungnahmen, Artikeln, Blogeinträgen und persönlichen Briefen an den Bundespräsidenten, dagegen protestierten, dass Köhler den Krieg in Afghanistan mit den Wirtschaftsinteressen Deutschlands zu legitimieren suchte. Ob Köhler wirklich eine neue Militärdoktrin verkünden wollte, nach der das deutsche Bruttosozialprodukt am Hindukusch verteidigt wird, halte ich für eher unwahrscheinlich. Denn so neu ist die Militärdoktrin der legitimen Wirtschaftskriege gar nicht. Die Bundeswehr ist schon seit einigen Jahren keine Verteidigungsarmee mehr. Immer wieder werden wirtschaftliche Interessen zitiert, wenn es darum geht, Kampfeinsätze der Bundeswehr in aller Welt zu rechtfertigen. Köhler hat also nur das getan, was die Verteidigungspolitiker seit Jahren tun. Und damit hat er gleich zwei Tabus gebrochen – nicht nur das Tabu, dass von deutschem Boden aus niemals wieder Krieg ausgehen dürfe, sondern vor allem das Tabu, dass der Bundespräsident allein für Sonntagsreden am Weihnachtsabend oder Trauerreden wie in Winnenden zuständig ist. Das Amt des Bundespräsidenten ist ein Amt für politische Kastraten, das allein dann richtig ausgefüllt wird, wenn der Amtsinhaber wie Weizsäcker vollkommen im Reden aufgeht – und endlich an höchster Stelle das ausspricht, was längst überfällig war.
Wir erinnern uns. Es gibt den Bundespräsidenten nur, weil das Amt eine Konvention ist, weil jedes Volk einen höchsten Repräsentanten braucht und weil die Väter und Mütter des Grundgesetzes, sich nicht vorstellen konnten, auf solch ein Amt in ihrem Verfassungsentwurf zu verzichten. Doch weil der letzte Reichspräsident je nach Interpretation ein seniler oder böswilliger Greis war (zu dessen Ehren es übrigens heute noch in Solingen einen Hindenburgplatz gibt) und ein faschistisches Arschloch zum Reichskanzler gemacht hatte, wollte man den Bundespräsidenten erstens niemals wieder vom Volk wählen lassen und ihn zweitens in seiner Macht so stark beschneiden, dass er nie wieder auffällig werden konnte. Seitdem ist der Bundespräsident genauso machtlos wie das Volk, das er repräsentiert. Alle vier Jahre darf er Neuwahlen für sein Volk ausschreiben, dazwischen, wenn die Wirtschaftslobby mit den Parteien Politik macht, hat er still dazusitzen und zu lächeln – wie sein Volk.
Ob Köhler persönlich der Auffassung ist, dass Deutschland am Hindukusch den Aufschwung verteidigt – oder ob er das Opfer einer rhetorischen Phrase geworden ist, nach der politisch unbequeme Entscheidungen gerne mit den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands und damit mit unser aller Wohlstand begründet werden, weiß ich nicht. Als Sparkassenpräsident und Währungsfondsdirektor ist Köhler in dieser Rhetorik groß geworden. Wenn die Zerschlagung des Sozialstaates, Niedriglöhne für alle und Milliardengeschenke an Finanzspekulanten mit unseren wirtschaftlichen Interessen begründet werden – warum dann nicht auch der unbeliebte Krieg in Afghanistan? Vermutlich hat sich Köhler in dieser zynischen Rhetorik mit den Jahren einfach nur verlaufen.
Die berechtigte Kritik an seinen Äußerungen ist jedoch kein Grund zurückzutreten. Eine missverständliche Äußerung auf dem Rückflug von Afghanistan ist nicht gleichzusetzen mit einer wohl vorbereiteten Rede vor dem Bundestag. Eine persönliche Klarstellung der Äußerung hätte vollkommen genügt. Köhler ist im Volk nicht unbeliebt. Er hätte bloß abwarten müssen, bis die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Nach wenigen Wochen wäre seine Äußerung nurmehr eine Randnotiz in Wikipedia wert gewesen.
Warum also der Rücktritt? Köhler selbst begründet ihn mit dem fehlenden Respekt für sein Amt. Da fragt man sich natürlich, was für eine Art von Respekt Herr Köhler da einfordert. Darf man den Bundespräsidenten per se nicht kritisieren oder darf man sich dabei nicht auf das Grundgesetz berufen? – Nein, der Rücktritt hat seine Wurzeln im Antritt. Wie soll ein Mann ein Amt ausfüllen, wenn er in Westerwelles Küche dafür ausgeguckt worden ist? Wie soll er ein Präsident für das ganze Volk sein, wenn er von diesem nie gewählt wurde, und von der politischen Klasse bloß als Sonntagsredner gebucht wurde? Das geht im Grunde nur dann, wenn man sein Selbstvertrauen wie Weizsäcker aus einer langen großbürgerlichen Familientradition schöpfen kann. Köhler, der aus einfachsten Verhältnissen kam und bis zu seinem 14. Lebensjahr in einem Flüchtlingsheim leben musste, konnte das offensichtlich nicht. Er steht für eine Generation, die es buchstäblich aus dem Nichts durch eigene, persönliche Leistung zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat. Ein Lebensweg, für den heutzutage wohl Singsternchen wie Lena repräsentativ sind. Köhlers politische Karriere zeichnet ihn als einen kompetenten Macher im Hintergrund aus, als jemanden, der wichtige Entscheidungen vorbereitet und aushandelt, aber weder im Rampenlicht steht noch die Richtung vorgibt. Vielleicht wäre er sogar der Kanzler, den Deutschland heute dringender denn je braucht.
Die Würde des Amtes, deren Verletzung er nun beklagt, wurde nicht von den Kritikern des Afghanistankrieges beschädigt, sondern bereits vor seiner Wahl verletzt. Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung macht dieses Amt seit jeher zum Spielball politischer Muskelspielchen. Berufen von Parteipolitikern in Hinterzimmern und Einbauküchen muss jeder Bundespräsident mit diesem Makel leben – und ihn in seiner Amtszeit durch sein persönliches Wirken überwinden. Dies gelingt letztlich nur in Abgrenzung zu den Kräften, die ihn ins Amt gehievt haben. Es wäre spannend gewesen, zu erfahren, was der Finanzfachmann Köhler zur Bankenkrise zu sagen gehabt hätte. Seine bisherigen Einlassungen zu diesem Thema waren blass und übervorsichtig. Da sprach kein souveräner Präsident, sondern jemand der Angst hat, von der Kanzlerin, die ihm das Amt verschafft hat, gerüffelt zu werden. Das Versagen der Politik in der Finanzkrise – das hätte Köhlers großes Thema werden können. Doch dazu hätte er in die Zukunft schauen müssen – und nicht nur wie Weizsäcker in die Vergangenheit. Er hätte Merkels und Westerwelles Versagen geißeln müssen, er hätte ein durch und durch politischer Präsident werden müssen und dazu hatte Köhler vermutlich nicht die Kraft.