Bundesschwiegersohn Wulff – oder Wikipedia im Wahlkampf
Kurz nach der Nominierung von Christian Wulff zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten erschienen in der Thüringer Allgemeinen und der Rheinischen Post zwei Porträts, die den Parteipolitiker als barmherzigen Samariter zeichnen, der in seiner Jugend aufopferungsvoll seine kranke Mutter gepflegt habe. Sofort landen die entscheidenden Zeilen noch ein wenig reißerischer in Wikipedia.
Martin Debes schreibt etwas abgehackt, aber noch halbwegs sachlich in der Thüringer Allgemeinen am 04.06.10:
»Wulff wuchs ohne Vater auf, auch der Stiefvater verließ die Mutter, die dazu an Multipler Sklerose erkrankte, weshalb er die kleine Schwester betreuen musste.«
Sven Gösmann, der Chefredakteur der Rheinischen Post, legt in einem am 5.6.2010 zuletzt aktualisierten Artikel aber kräftig nach:
»Als er 15 war, wurde bei seiner Mutter Multiple Sklerose diagnostiziert. Wulff pflegte seine hinfällige Mutter, die 1996 starb, kümmerte sich um seine sieben Jahre jüngere Schwester Natascha.«
Es ist nicht auszuschließen, dass beide von der Bildzeitung abgeschrieben haben, die, wenn man der Ordner-Hierarchie glauben will, schon am 17.1.2010 den Samariter-Tenor mit rührendem Mutter-und-Sohn-Foto anschlug:
»Heute ist Christian Wulff (50, CDU) Ministerpräsident von Niedersachsen. Doch schon als Jugendlicher stand er vor der wahrscheinlich schwersten Aufgabe seines Lebens: Seine Mutter Dagmar erkrankt 1975 – sie war damals 46 Jahre alt – an multipler Sklerose. Sie wird später zum Pflegefall. Im Teenageralter übernimmt Christian Wulff die Pflege seiner kranken Mutter, hilft bei der Erziehung seiner damals sieben Jahre alten Schwester.«
Ich will das Schicksal von Wulffs Mutter nicht verharmlosen. Man sollte allerdings das Bild, das die Bildzeitung heraufbeschwört, dass nämlich Christian Wulff mit 16 einen Pflegefall zu betreuen hatte, mit einer gehörigen Portion kritischer Distanz betrachten. Wulff war 15 oder 14 (die Bildzeitung macht ihn nun kurz vor der Wahl noch einmal um ein Jahr jünger) als bei seiner Mutter MS diagnostiziert wurde. Ob sie sofort zu einem Pflegefall wurde, darf man bezweifeln. Das Foto in der Bildzeitung zeigt sie dreizehn Jahre später bei der Hochzeit ihres Sohnes, der damals immerhin schon 29 Jahre alt war.
Doch einmal in die Welt gesetzt, macht das Bild seine Runde. Ein Benutzer mit dem Benutzernamen “Kleiner Tiger”, der auf seiner Seite nicht viel über sich preisgibt, setzte die Geschichte, arg dramatisiert, mit einem Verweis auf die Bildzeitung am 7.6.2010 an den Anfang von Wulffs Lebenslauf.
»Wulffs Eltern trennten sich, als er zwei Jahre alt war. Nachdem der Stiefvater die Familie verlassen hatte, übernahm er als 16-jähriger die Pflege der zwischenzeitlich an Multipler Sklerose erkrankten Mutter und half bei der Erziehung seiner jüngeren Schwester.«
Der Hautgout der Bildzeitung bewog dann den Benutzer Wangen dazu, statt Bild die seriöseren Medien ›Rheinische Post‹ und ›Thüringer Allgemeine‹ als Quellen anzugeben.
Nun soll niemand mehr sagen, ›das Netz‹ setze sich ausschließlich für Gauck ein. Bei Wikipedia hat Wulff einige Freunde. Jedenfalls ist die Schilderung von Wulffs Jugend bei Wikipedia so formuliert, dass es nun keinerlei Zweifel mehr gibt, dass der Samariter mit 16 die Pflege seiner Mutter übernommen hat. Gab es nicht einmal ein Neutralitätsgebot bei der Wikipedia? Oder wenigstens das Gebot, sachlich zu formulieren? Jedesfalls findet sich der Wikipedia-Satz wortwörtlich auch auf der Facebook-Seite von Wulff. Ob das etwas über den Urheber der Zeilen in Wikipedia aussagt, sei dahingestellt.
Zur Ehrenrettung der relevanzgeplagten Wikipedia sei jedoch angemerkt, dass weiter unten, dort, wo es kaum noch jemand liest, auch erwähnt wird, dass Christian Wulff Kuratoriumsmitglied der missionarischen Evangelikalenorganisation ProChrist ist, die im Biologieunterricht sicher gerne Darwin durch das erste Buch Moses ersetzen würde.
Auch wenn die CDU-Presse uns Wulff als guten Bundesschwiegersohn verkaufen möchte, ich halte seine Unterstützung der Evangelikalen für deutlich relevanter als seine Mutterliebe. Denn die hässliche Fratze der geistigen Unterdrückung durch das Christentum kam immer in der Maske der vorgeblichen Nächstenliebe daher.