Warum Gauck?
Da die Bundespräsidentenwahl schon morgen ist, habe ich keine Zeit mehr gehabt, mich kurz zu fassen. Und übermorgen ist dieser Text sowieso schon kalter Kaffee. Lest ihn also heute noch oder vergesst ihn!
Um zu zeigen, welche Chancen die Wahl Joachim Gaucks eröffnen würde, muss ich 16 Jahre in die Vergangenheit blicken, als die letzte historisch einzigartige Chance vergeben wurde. Als 1994 der Nachfolger von Richard von Weizäcker gewählt werden musste, gab es Stimmen, die Ignatz Bubis, den damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, ins Gespräch brachten. 1994 war die Bundespräsidentenwahl ein wichtiges Thema, aber nicht wie heute aufgrund parteipolitischer Konstellationen – der Helmut der Einheit saß fest im Sattel – sondern weil der scheidende Bundespräsident der erste war, auf den man ein wenig stolz sein konnte. Natürlich ist dieser Stolz auf eine Person, durch die man repräsentiert wird, immer ein indirekter oder sekundärer Stolz. Oft wird dieser Stolz heftig kritisiert, weil auch der Nationalstolz ein sekundärer Stolz ist. Aber so einfach ist das nicht. Der Stolz auf den obersten Repräsentanten, sei es der Bundespräsident oder die Nationalmannschaft, ist durchaus etwas Originäres. Denn umgekehrt fühlen wir uns selbst lächerlich gemacht, wenn der Bundespräsident, wie Walter Scheel es tat, in Fernsehshows auftritt und »Hoch auf dem Gelben Wagen« trällert oder wenn er, wie Karl Carstens als gealterter Bundeswandervogel durch die Lande zieht. Richard von Weizäcker war der erste Bundespräsident, an den ich mich bewusst erinnern kann, der dem Amt die angemessene Würde und intellektuelle Tiefe gab. Richard von Weizäcker war der erste Bundespräsident, der in seiner Person den Deutschen eine Identität, jenseits des Fußballs und des Bruttosozialproduktes stiftete. Dies war vielen im Jahre 1994 bewusst. Und so war es nichts Ungewöhnliches, dass man sich sogar im Freundes- und Bekanntenkreis darüber Gedanken machte, wer denn das Format habe, Richard von Weizäcker im Amt nachzufolgen. Für mich gab es damals in ganz Deutschland nur eine Person, die als Nachfolger in Frage gekommen wäre: Ignatz Bubis, der Häuserspekulant im Frankfurter Westend, den Rainer Werner Fassbinder in seinem Theaterstück ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ skizziert haben soll. Die Gründe warum ich Bubis gerne als Bundespräsidenten gesehen hätte, habe ich 1999 in einem Nachruf zusammenfasst. Zu den Gründen, die ich damals angerissen habe, kommt ein weiterer Grund hinzu, vielleicht der wichtigste, den ich im Nachruf nicht erwähnt habe. Die Zeit nach der Wiedervereinigung war gekennzeichnet durch rechtsradikale Morde und ein Erstarken der Neonazis vorwiegend, aber bei weitem nicht nur, in Ostdeutschland. In dieser unterschwelligen Pogromstimmung wäre die Wahl von Bubis zum Bundespräsidenten ein wunderbares Zeichen gewesen. Leider hat Ignatz Bubis damals die Kandidatur frühzeitig mit der Begründung abgelehnt, Deutschland sei noch nicht reif für einen jüdischen Bundespräsident.
Mit Roman Herzog wurde dann der Präsident des Bundesverfassungsgericht zum Bundespräsidenten gewählt. Eine seltsam ängstliche Wahl. Aus Mangel an parteipolitisch vertretbaren Persönlichkeit wählte man einfach den höchsten Vertreter eines der anderen verfassungsrechtlich obersten Organe der Bundesrepublik Deutschland zum Bundespräsidenten. Für den auf Herzog folgenden Johannes Rau war das Amt der angemessene politische Altersruhesitz. Und Horst Köhler konnte sich nie aus der unwürdigen Rolle befreien, in die ihn Merkel und Westerwelle in des Letzteren Küche gesteckt hatten. Seit Richard von Weizäcker waren unsere Bundespräsidenten in dieser Rolle historisch unbedeutend.
Wenn man wie Merkel keine Autorität neben sich duldet, ist also Christian Wulff der logische Kandidat. Er ist durch und durch Parteisoldat – anders als der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, anders als der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgericht, anders als der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds. Der parteipolitische Makel bei Wulff wäre für uns Bürger zu verschmerzen, auch Richard von Weizäcker und Johannes Rau waren vor ihrer Wahl als Ministerpräsident und Regierende Bürgermeister parteipolitisch gebunden. Allerdings war von Weizäcker immerhin Bürgermeister einer geteilten Stadt an der Nahtstelle des Kalten Krieges, was ihn heraushob aus den übrigen Landesvätern in Deutschland, und Johannes Rau konnte sich nach 20 Jahren im Amt des NRW-Ministerpräsidenten ziemlich glaubhaft mit der Aura der landesväterlichen Überparteilichkeit umgeben. Wulff dagegen ist nichts anderes als Parteipolitiker. Er ist jemand der bereits als Jugendlicher in die Schüler-Union eingetreten ist und nie etwas anderes kannte, als die Winkelzüge der Parteipolitik. Doch es gibt etwas, das viel schwerer wiegt. Wulff ist – obwohl katholisch getauft – ein Evangelikaler, ein Kreationist. Er pflegt beste Kontakte zu den starrsinnigsten Missionsorganisationen in Deutschland. Aus irgendeinem Grunde ist diese Seite von Wulff der breiten Öffentlichkeit bisher geschickt verborgen geblieben. Christian Wulff wäre eine Katastrophe für Deutschland im Amt des Bundespräsidenten. Er steht für alles, was wir am Christentum hassen. Er steht Organisationen nahe, die Homosexuelle diskriminieren und ›heilen‹ wollen, die Abtreibung kriminalisieren, die kritische Journalisten bedrohen und die Genesis im Biologieunterricht einführen wollen. Christian Wulff ist im Grunde indiskutabel, und es ist im Grunde eine Schande, dass ein Mann wie Joachim Gauck gegen so eine Person überhaupt antreten muss.
Was aber hebt Joachim Gauck nun so weit heraus, dass er ein Bundespräsident wäre, auf den wir alle stolz sein könnten. Es ist, das sei gleich vorweg gesagt, nicht die individuelle Person, die ihn so bedeutend macht, sondern sein Lebensweg. Lebenswege sind nicht allein die Summe persönlicher Leistungen und Entscheidungen, sondern das Resultat geschichtlicher und mithin gesellschaftlicher Entwicklungen. In seinem Lebensweg realisiert sich der Mensch als gesellschaftliches Wesen. Und genau diese Einbettung des Lebensweges in die geschichtliche Entwicklung eines Landes macht es möglich, dass wir uns mit einer Person identifizieren, uns von ihr repräsentiert fühlen. Das war bei Richard von Weizäcker der Fall, dessen Vater SS-Brigadeführer war, dessen Bruder am zweiten Tag des Krieges fiel, der selbst mehreren Kriegsfronten kämpfte und der mit Axel von dem Bussche und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, zwei Männern aus dem militärischen Widerstand des 20 Juli 1944, befreundet war.
Und sein Lebensweg verband auch Ignatz Bubis mit uns allen, dessen Vater, Bruder und Schwester von den Nationalsozialisten in den Vernichtungslagern ermordet worden war und der sich stets als Deutscher fühlte und als Deutscher unter Deutschen anerkannt werden wollte. Er bot damit – was bis heute nur wenige erkennen – Menschen wie mir die Chance, sich als nachgeborenes Opfer des Nationalsozialismus zu fühlen und nicht als Mitglied einer Täternation. Wir alle leiden selbst heute noch an den Folgen des nationalsozialistischen Terrors. Und ich meine hier nicht die Gesichtslosigkeit deutscher Städte, die man aus Trümmern aufbauen musste, sondern die Ermordung von Millionen Menschen und die Zerstörung einer wissenschaftlichen und kulturellen Tradition, in der sich christliche, jüdische und aufklärerische Einflüsse so überaus fruchtbar vermischt hatten. Bubis hat uns eingeladen, über diesen Verlust gemeinsam zu trauern. Eine Einladung, die wir 1994 leider nicht angenommen haben.
Eine weitere Folge des Nationalsozialismus war die Teilung Deutschlands, womit wir – endlich – bei Gauck wären.
Joachim Gauck half als Bürgerrechtler nicht nur mit, diese Teilung zu überwinden, er war als Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR maßgeblich an der Formulierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes der Volkskammer beteiligt. Es war die Volkskammer der DDR, die ihn 1990 zum Vorsitzenden des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)/Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) wählte! Dass er zum Chef der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen wurde, ist den Bürgerrechtlern in der DDR, der friedlichen Revolution zu verdanken und nicht etwa westdeutschen Politikern. Joachim Gauck steht damit für einen in der deutschen Geschichte beispiellosen Akt der politischen Aufarbeitung einer Diktatur. Die Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes war nach der Selbstbefreiung ein Akt der Selbstreinigung, dessen Tragweite kaum zu überschätzen ist. Auch wenn die Tätigkeit der Gauck-Behörde, wie sie dann schnell genannt wurde, häufig schmerzhaft war und nicht selten vordergründig skandalisiert wurde, ist die positive Wirkung der Wahrheitsfindung segensreich gewesen. Natürlich haben die Dimensionen des Spitzelstaates, die die Gauck-Behörde aufdeckte, unsere Vorstellungskraft bei weitem übertroffen, sodass der falsche Eindruck entstand, die DDR wäre ein einig Volk von Spitzeln gewesen. Was aber bleibt und nicht vergessen werden sollte, war dass es die Menschen in der DDR selbst waren, die die Entscheidung trafen, Licht in das Dunkel dieses Spitzelsystems zu bringen. Und auf diese Leistung können wir alle – auch wenn wir daran nicht selbst beteiligt waren – verdammt stolz sein. Joachim Gauck verkörpert für mich den Willen zur Wahrhaftigkeit bei der Aufarbeitung einer Diktatur. Gibt es eine bessere Empfehlung, ihn morgen zu wählen?
Dass die Linke den Kandidaten Gauck mit Argumenten aus der Tagespolitik ablehnt, zeigt, dass sie nichts verstanden hat. Aber was kann man auch anderes von Leuten erwarten, der angesichts eines Staates, der seine Bürger einmauert, die Grenzen mit Todesstreifen und Selbstschussanlagen sichert und jeden erschießt oder einsperrt, der es wagt, das Land zu verlassen, das Wort ›Unrechtsstaat‹ nicht über die Lippen bekommt? Gauck abzulehnen, weil er angeblich für das neoliberale Politikmodell steht, die Agenda 2010, Hartz IV, die Rente mit 67 und andere Sozialkürzungen befürwortet und nicht gegen den Afghanistankrieg war, ist mehr als armselig. Es offenbart nur eins, die Linke ist im Grunde ihres Herzens immer noch die alte SED, die es den Bürgerrechtlern nicht verzeihen kann, dass sie als Partei und Ideologie auf dem Müllhaufen der Geschichte landete.
Alle anderen Wahlfrauen und Wahlmänner sollten morgen Joachim Gauck wählen, der in dem großartigen Schauspiel der Wiedervereinigung auf der Seite der Bürgerrechtsbewegung stand, der für Wahrhaftigkeit und Transparenz auftraf – Werte, die wir in unserer Parteienoligarchie so schmerzlich vermissen. Leider muss man befürchten, dass morgen wieder die Parteipolitik triumphieren wird: ein Pyrrhussieg, den die Damen und Herren von CDU/CSU und FDP noch lange bedauern werden.