1914 im Netz – Generalmobilmachung
Als der erste Weltkrieg ausbrach, ging es um die Aufteilung der Welt. An der Westfront verbiss man sich vier Jahre lang ineinander. Neologismen wie Grabenkrieg und Materialschlacht entstanden. Was zurzeit im Internet passiert, erinnert stark an 1914. Es herrscht Krieg und wir hocken bereits mitten im Schützengraben.
In regelmäßigen Abständen taucht in den Medien der Begriff Cyberwar auf und unbeleckte Leser und Zuschauer denken sich wer weiß was, beim Anblick der flackernden Grafiken und der martialischen Beschreibungen. Die wildesten Szenarien werden kolportiert. Terroristen kapern das Netz und sprengen sich am Backbone selbst in die Luft, Kriminelle räumen unsere Konten leer, die Russen lassen ihre T-64-Panzer in unserer Mailbox aufmarschieren. Der einzige Sinn dieser Schauermärchen liegt in der Ablenkung. Wir sollen nicht merken, dass der Krieg längst ausgebrochen ist und wir mitten drin sitzen im Schützengraben. Nur erwartet uns kein Stahlgewitter aus Mörsern und Schrapnells, sondern digitaler Vandalismus, Abmahnungen und ein Zweiklassen-Internet.
Unter den Schrapnells der Massenabmahnungen durch kleine Terroristengruppen leidet das Netz seit Jahren. Mittlerweile hat aber auch die Musik- und Filmindustrie diese effiziente Waffe gegen weiche Ziele entdeckt und überzieht Tauschbörsennutzer mit Abmahnungen und Klagen. Noch treffsicherer sind jedoch die Mörsergranaten der Löschaufforderungen, mit denen Firmen wie Sony Inhalte beispielsweise in Youtube löschen lassen. Diese Mörser können aber sehr schnell auch zivile Ziele treffen wie elektrische Reporter oder völlig rechtmäßig im Internet stehende »Filme«.
Wer mit Mörsern, Granaten und Schrapnells beschossen wird, springt schnell in den nächsten Graben und schießt zurück. Dass die GVU nun ihrerseits eine strafbewehrte Abmahnung bekommt, ist natürlich vielen Netzbewohnern ein innerer Vorbeimarsch. Doch wie bei jedem inneren Vorbeimarsch bleibt ein bitterer Geschmack zurück. Der Feind hat uns in den Graben gejagt und zwingt uns mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Dabei wollen wir das gar nicht. Die Gräben werden so immer tiefer und zahlreicher, denn der zermürbende Stellungskrieg zwischen der Musik- und Filmindustrie und den Liebhabern von guter Musik und guten Filmen zieht sich schon seit Jahren hin.
Und in dieser Situation entsteht plötzlich eine neue Front und eine neue Art der Kriegsführung, die schnelle Geländegewinne verspricht. Was Google und Verizon tun, ähnelt mehr dem Blitzkrieg von 1940 als dem zermürbenden Grabenkrieg von 1916.
Google hat das Netz erobert mit kostenlosen Diensten, denen niemand widerstehen kann, nun wollen sie es dauerhaft kolonialisieren und nach ihren Bedürfnissen umformen. In diesem Kampf will keine Grabenromantik aufkommen, weil keine kleinen Davids gegen Goliaths kämpfen und niemand wegen ein paar Musikstücken in lebenslange Schulden gestürzt wird. Doch die Netzneutralität ist die Front, die über die Freiheit des Internets letztendlich entscheiden wird. Und hier geht es nicht um die Ehre, sondern ums nackte Überleben, denn der Krieg gegen die Netzneutralität ist ein Vernichtungskrieg.
Wenn die Netzneutralität fällt, werden wir alle zu Netzbürgern zweiter Klasse. Wenn die Netzneutralität fällt, sinkt der Druck auf die Infrastrukturbetreiber, mehr Bandbreite vorzuhalten. Sie werden sich im Gegenteil künftigdie Hände reiben, wenn die Bandbreite zu einem knappen Gut wird, das man gewinnbringend an den Meistbietenden verkaufen kann. Jedes Gigabit Bandbreite wird zu einer Lizenz zum Geld drucken. An Ausbau wird man erst dann denken, wenn man die Preise in nie gekannte Höhen spekuliert hat. Alle kleinen Blogs werden schlagartig aus dem Netz verschwinden, weil der Aufbau einer einfachen HTML-Seite Minuten dauern wird. Niemand wird sie mehr lesen wollen. Stattdessen werden Reality-Shows und andere aus dem Fernsehen bekannte Formen der Volksverdummung auf superschnellen Highways in unsere Wohnzimmer gepusht, dass uns Hören und Sehen vergeht. Das Problem unliebsamer Inhalte durch Wikileaks und andere Plattformen wird sich von selbst erledigen, weil der Download Monate dauern wird. Anonyme Peer-to-Peer-Netze wie Freenet oder I2P werden aufgrund der radikal eingeschränkten Bandbreite ihren Betrieb aufgeben müssen. Der Endsieg für die Content-Industrie und alle Diktatoren dieser Welt.
Das Netz wird zur Beute von Spekulanten, ein Ort politisch genehmer Volksbespaßung. Es wird aussehen wie eine Mischung aus italienischem Privatfernsehen, nordkoreanischer Propaganda und amerikanischen Fox-News.
Die Netzbewohner sind dem Feldzug von Google, Verizon, Telekom und den anderen Achsenmächten hilflos ausgeliefert. Mit seinen kleinen Street-View-Wagen sorgt Google sogar noch für einen lautstarken Ablenkungsangriff, der die Politiker vom Hauptangriff ablenken soll. Und die allermeisten Internetbenutzer haben nicht einmal den Schimmer einer Ahnung, was gerade passiert.
Der Angriff auf die Netzneutralität sollte eigentlich eine Generalmobilmachung der Netzbewohner auslösen. Doch bisher sind es nur einige Freiwillige, die sich an die Front melden. Dabei geht es jetzt um alles, um das ganze Netz. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt und hier.
Was wir als erstes in Deutschland brauchen, ist eine grundgesetzlich verankerte Netzneutralität. Noch besser wäre eine eindeutige europäische Richtlinie. Ob hier eine Petition ein möglicher Weg ist, weiß ich nicht – aber ich würde sie sofort unterzeichnen.