Ach wär' der Fortschritt doch eine Schnecke

dann käme er wenigstens langsam voran. Heute aber bekam ich Post von der Deutschen Rentenversicherung Bund, in der mir mitgeteilt wurde, dass in einigen Wochen die Sozialwahl 2011 startet. Da erkannte ich, dass der Fortschritt, wenn überhaupt, eine tote Schnecke ist.

Ich zitiere aus dem Brief:

»Bei der Sozialwahl wählen Sie das ›Parlament‹ der Deutschen Rentenversicherung Bund neu: kompetente Frauen und Männer, die sich ehrenamtlich engagieren und gegenüber Politik und Gesetzgeber Ihre Interessen vertreten.«

Als ich das las, fiel mir sofort eine Sudelei aus dem Jahre 1999 (neunzehnhundertneunundneunzig) ein, als wir das letzte Mal unser wohlweislich in Anführungsstriche gesetzte ›Parlament‹ der Rentenversicherung wählen durften – oder sollte ich eine Wahl dazwischen übersehen haben? Mag sein. Die Sozialwahlen sind fester Bestandteil der demokratischen Selbstverwaltung (aka Selbstbedienung) unseres Sozialwesens. Die Wahlbeteiligung dürfte bei unter 5% liegen. Die Kandidaten bleiben also unter sich.

Wie sich das auswirkt, habe ich im letzten Jahrhundert bereits beschrieben. Deshalb mache ich heute den Guttenberg und schreibe von mir selber ab:

Ich mach’ euch den Sancho

Ich sehe rot. Seit Wochen schon. An Litfaßsäulen, Plakatwänden und City-Lights. Ein großer roter Briefumschlag sagt mir: Die Wahl muss sein! Als informierter Bürger dieses Landes, habe ich natürlich eine leise Ahnung davon, um welche Wahl es sich hierbei handelt, doch ich frage mich, ob diejenigen meiner Mitbürger, die noch nie in das Sozialgesetzbuch hineingeschaut haben, nach dem Betrachten der Werbeplakate mehr wissen als vorher. Aber ich will hier nicht darüber sinnieren, ob die Millionen für diese Werbekampagne gut angelegt sind. Wer sich informieren will, kann dies ja unter http://www.sozialwahl.de tun.

Vor einigen Tagen habe ich nun meinen Wahlzettel bekommen, der mir sagt, ich könne die Weichen in der Rentenversicherung der Angestellten für die nächsten sechs Jahre stellen. Da der Absender ahnte, dass mir die langen Bezeichnungen der zur Wahl stehenden Listen nicht viel sagen dürften, hat er gleich eine Postkarte beigefügt, mit der ich weiteres Informationsmaterial anfordern kann. Kurze Zeit habe ich ernsthaft erwogen, dies zu tun, man will ja seine Stimme nicht einfach blindlings abgeben. Doch dann entdeckte ich neben den Nummern der Listen kleine Sternchen, die in der Fußnote wie folgt erklärt werden: Die mit 1, 2, 3, 4 Stern(en) gekennzeichneten Listen sind eine Listenverbindung eingegangen. Aha, denke ich, hier handelt es sich also um Blockparteien. Nach einem genauen Studium der Listenverbindungen ergibt sich folgendes Bild:

  1. Block: Die Regierungsnahen und die Frauen

    • BfA-Gemeinschaft – Freie und unabhängige Interessengemeinschaft der Versicherten und Rentner der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte e.V.
    • DAK-Versicherten und Rentnervereinigung (DAK-VRV) – freie und unabhängige Interessenvertretung in der DAK und BfA –
    • VWA – Verband der weiblichen Arbeitnehmer e.V.
    • BEK-Versichertenvereinigung, Vereinigung der Versicherten, Rentnerinnen und Rentner der Barmer Ersatzkasse e.V.
  2. Block: Der starke Arm und die Katholiken

    • Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV)
    • DA – Deutsche Angestellten-Gewerkschaft
    • Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV)
    • Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Kolpingwerk Deutschland / Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen e.V.
    • Industriegewerkschaft Metall • Deutscher Gewerkschaftsbund
  3. Block: Die Skurrilen und die Beamten

    • GVR – Gemeinschaft von Versicherten und Rentnern der Angestelltenversicherung e.V.
    • Deutscher Beamtenbund (DBB)
    • ULA – Union der Leitenden Angestellten
    • Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschlands (CGB) / Verband Deutscher Techniker VDT / DHV – Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband / Gewerkschaft öffentlicher Dienst und Dienstleistungen (GÖD)
    • KOMBA-Gewerkschaft für den Kommunalund Landesdienst e.V.
  4. Block, die Unabhängigen aus den 50er Jahren

    • TK-Gemeinschaft, unabhängige Versichertengemeinschaft der Techniker Krankenkasse e.V.
    • Interessengemeinschaft von Mitgliedern und Rentnern in der Barmer Ersatzkasse und in der Angestelltenversicherung e.V., gegründet 1958
    • DAK-Mitgliedergemeinschaft e.V., Versicherte und Rentner gegründet 1955 – gewerkschaftsunabhängig –
    • KKH-Versichertengemeinschaft e.V. – gegründet 1957, Freie und unabhängige Gemeinschaft von Mitgliedern, Versicherten und Rentnern der Kaufmännischen Krankenkasse – KKH
    • Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger – AUB Die Unabhängigen e.V.

Übrig bleibt die Liste 21, Freie Liste Hirrlinger / Laschet, die keine Listenverbindung eingegangen ist. Walter Hirrlinger ist Präsident des VdK, Ulrich Laschet Bundesgeschäftsführer, wie ich nach einer kurzen Recherche im Internet herausfand.

Kurze Zeit darauf bekam ich Post von meiner Krankenkasse, wo ebenfalls Sozialwahlen stattfinden und die Listen untereinander kungeln.

Überwältigt von der Schwere der Entscheidung vermag ich meine Wahl im Moment noch nicht zu treffen, doch bis zum 26. Mai, werde ich alles nur in meiner Macht Stehende tun, um herauszufinden, wer mit wem, warum und wieso. Die Ergebnisse dieser Investigation werde ich in einem 200 Seiten-Artikel im Spiegel veröffentlichen, Titel: Gefangen im Netz der Sozialversicherung.

Aber meine Bewunderung für diejenigen, die dieses System reformieren wollen, ist beträchtlich gestiegen. Holt Rosinante aus dem Stall, putzt die Lanzen, ich mach’ euch den Sancho!

Solingen, den 23. April 1999

Soviel zu damals. Nun gibt es allerdings bei genauerem Hinsehen doch Fortschritte. Anders als vor 12 Jahren, wo nur eine Internetseite über die Sozialwahlen desinformierte, gibt es heute eine Fanpage auf Facebook und einen Twitter-Account. Ohne geht ja nicht mehr.

Leider habe ich bisher nicht herausfinden können, welche Listenverbindungen die Blockflöten diesmal eingegangen sind und ob es unabhängige und vertrauenswürdige Kandidaten gibt. Sollte es diese jedoch geben, so wäre es doch an der Zeit, mit Hilfe von Twitter und Facebook so viel Unterstützung für die unabhängigen Kandidaten zusammenzutrommeln, dass die ewig gleichen Selbstbediener diesmal außen vor bleiben. Oder ist das schon wieder von der Schnecke geträumt?