Neusprech und Kurzdenk in der Atomdebatte (Teil 3)

Strahlemädchen Cécile Calla schreibt über die ›German Angst‹. Dieses mittlerweile internationale Meme macht aus dem Bedenkenträger eine nationalen Charakterzug. Nun wird es genutzt, um französische Atomkraftwerke vor deutscher Kritik zu schützen.

Die Deutschlandkorrespondentin der französischen Tageszeitung ›Le Monde‹ sorgt sich um französische Atomkraftwerke und schüttelt daher präventiv den Kopf über die ›German Angst‹.1

Im ersten Teil der Neusprech-Kurzdenk-Reihe bin ich darauf eingegangen, wie es der Atomlobby gelungen ist, den Widerstand gegen die Atomtechnik so erfolgreich auf eine emotional-psychologische Ebene herunter zu drücken, dass dies sogar von den Atomkraftgegnern verinnerlicht wurde, die bekanntlich gerne mit persönlicher Betroffenheit (»Ich habe Angst«) argumentieren.

Es wird Zeit, diese Haltung der Atomkraftgegner zu kritisieren, weil sie oft mit einem freiwilligen Verzicht auf weitere Argumente einhergeht. Das Angst-haben muss nicht weiter begründet werden, es reicht als Betroffenheits-Statement aus und lässt dem Gegner nur wenig Argumentationsmöglichkeiten offen. Insofern mag die Betroffenheits-Rhetorik der Atomkraftgegner in gewissen Grenzen eine erfolgreiche Strategie sein. Wie ich jedoch gezeigt habe, disqualifiziert sich der Angsthabende dadurch gleichzeitig im rationalen Diskurs. Schließlich heißt es, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Wer Angst hat, den nimmt man in den Arm, aber man überlässt ihm nicht die Führung des Landes.

In diesem Zusammenhang muss man die politische Strategie der Grünen, stets auch auf die großen wirtschaftlichen Chancen einer ökologischen Politik hinzuweisen, einmal uneingeschränkt loben. Die Gleichung geht jetzt auf. Deutschland ist in der Lage, auf Atomstrom in absehbarer Zeit zu verzichten. Frankreich ist es nicht. Mit Merkels rhetorischer Lieblingsphrase muss man die Lage Frankreichs als alternativlos bezeichnen. Sie haben sich von einer nicht beherrschbaren Technologie abhängig gemacht. Sie stecken in der Sackgasse. Und davor haben sie Angst.

Denn wenn das größte und einflussreichste Land in der Europäischen Union aus der Atomkraft aussteigt, und deutsche Behörden und deutsche Bürger auf einen Ausstieg auch in Frankreich drängen, steht Paris dumm da. Bisher war es undenkbar, dass sich ein anderer Staat in das nationale Heiligtum der Franzosen, die Atomkraft, einmischt, doch mittlerweile ist dies nicht mehr so. Atomkatastrophen überschreiten Grenzen. Die Stromerzeugung in Frankreich bedroht auch die Nachbarländer. Deshalb muss man rechtzeitig vorsorgen.

Das internationale Meme von der ›German Angst‹ kommt da gerade recht. Während der deutsche Nazi nur noch in britischen Boulevardblättern sein Dasein fristet, ist der Deutsche, der sich vor Dioxin im Ei, BSE im Rindfleisch, der Schweinegrippe im Allgemeinen und radioaktiven Strahlen aus allen Himmelsrichtungen im Besonderen fürchtet, ein internationales Abziehbild, das sich prima ausnutzen lässt, um eine Diskussion über französische Kernkraftwerke erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Cécile Calla sieht die Deutschen in Panik. Vermutlich war es deshalb heute in der Stadt so leer, weil sich bereits alle meine Mitbürger mit Notreserven für sechs Wochen ausgerüstet haben und im Keller darauf warten, dass die radioaktive Wolke aus Japan an uns vorüberzieht. Wenn wir gerade eine Panik in Deutschland erleben, dann wäre das ein angenehmer Dauerzustand.

Natürlich schlägt die eloquente Französin auch gleich mit genau der Keule zu, die ich im zweiten Teil dieser kleinen Reihe beschrieben habe. »Richtig wütend macht sie, dass die Opfer dabei in Vergessenheit geraten« – schreibt die Spiegel-Redaktion in der Einleitung des Kommentars. Vielleicht sollte die Le-Monde-Korrespondentin sich einmal dazu herablassen, ins deutsche Boulevard zu blicken. Man kann über Frauenzeitschriften denken was man will, aber ›die aktuelle‹ zeigt auf ihrem Titelbild gerade ein trauriges japanisches Mädchen auf den Armen eines Retters und schreibt dazu »Die Welt weint mit Dir!«. Vermutlich hat die in Berlin lebende Französin eine selektive Wahrnehmung entwickelt und mit feinem Gespür erkannt, dass die Zeit der Atomkraft in Deutschland abgelaufen ist und dass sich die Aufmerksamkeit Deutschlands demnächst auf die französischen Kernkraftwerke richten wird. Und das ist ärgerlich.

Mit dem Meme der ›German Angst‹ kann man ein ganzes Volk wunderbar diskreditieren. Sobald die Bundesregierung in Paris vorstellig wird oder die ersten Klagen von deutschen Umweltorganisation gegen französische Kernkraftwerke an europäischen Gerichten anhängig sind, kann man die Deppen jenseits des Rheins als einen ängstlichen Hühnerhaufen bezeichnen, den man in keinster Weise ernst nehmen muss.

Die Franzosen haben es natürlich sofort registriert, als der für die Energiepolitik zuständige deutsche EU-Kommissar einen Stresstest für alle europäischen Atomkraftwerke gefordert hat. Eine solche Einmischung in die inneren Angelegenheit der Grande Nation wäre vor einer Woche noch undenkbar gewesen. Daher ist es wichtig, die Deutschen mit Hilfe des Memes der ›German Angst‹ als hysterische Neurotiker zu brandmarken.

Die Ironie liegt nun darin, dass die französische Atomindustrie, die sich wie ein Krebsgeschwür in den französischen Staat hineingefressen hat, Angst vor dem mächtigen Nachbarland bekommt. Die Deutschen könnten in der EU, wenn sie wollten, neue Sicherheitsstandard durchsetzen und damit mittelfristig die französischen Atomkraftwerke ebenfalls abschalten. Die französische Atomindustrie hat Angst, dass ihr Geschäftsmodell bald keins mehr ist. Wir sollten also aufpassen, dass sich das Zerrbild von der ›German Angst‹ in den Köpfen unserer Nachbarn nicht festsetzt.

Dass das Meme der ›German Angst‹ überhaupt entstehen konnte, haben wir uns sicher zum Teil selbst zuzuschreiben. So haben die Verbraucher zwar klare Vorstellungen darüber, was in die Nahrung gehört und was nicht. Aber leider ist der Verbraucher in Deutschland so unorganisiert, dass er neben dem temporalen Kaufstreik keine Möglichkeit hat, auf die Nahrungsmittelproduktion Einfluss zu nehmen. Die meisten von uns können es sich nämlich schlicht und einfach nicht leisten, ausschließlich beim Biobauern zu kaufen. Deshalb kehren wir nach wenigen Wochen Protest wieder zu den Billigproduzenten zurück.

Aufgrund der äußerst effizient arbeitenden Lobbyverbände hat der Staat seine Kontroll- und Regelungsfunktion nahezu vollständig aufgegeben. Verböte der Staat beispielsweise die Verwendung von Antibiotika in der Fleischproduktion, würden die Preise ganz sicher nur sehr mäßig steigen. Da der Verbraucher aber eine solche Politik gegen den Willen der Lobbyverbände nicht durchsetzen kann, bleibt ihm nicht viel anderes übrig, als bei den regelmäßig eintretenden Skandalen für kurze Zeit in einen Käuferstreik zu treten. Wer dieses Verhalten als inkonsequent und hysterisch kritisiert, macht es sich viel zu einfach. Das Verhalten ist die Folge einer konsequenten politischen Entmüdigung.

Leider trägt auch hier die Ökobewegung eine Mitschuld, da sie der Argumentation der Lobbys, der Verbraucher wolle ja billige Nahrungsmittel, auf den Leim gegangen ist und ein persönliches Umdenken des Einzelnen fordert. Veränderung fängt bei dir selbst an! Es gibt wohl kaum eine Weisheit, die so gründlich missverstanden wird, wie diese. Wenn ich Fleisch von glücklichen Schweinen esse, wird nicht die Welt gerettet, sondern höchstens mein Portomonnaie schneller leer. Die kritische Masse, die notwendig ist, um der ökologischen Landwirtschaft zum Sieg zu verhelfen, wird nie erreicht. Seitdem mehr und mehr Menschen ökologische Produkte kaufen wollen, wurde nicht die Landwirtschaft biologischer, sondern bloß die Etiketten im Supermarkt grüner. Über Angebot und Nachfrage lässt sich das Problem niemals lösen, weil die Zahl derjenigen, die sich teure Bioprodukte leisten können, nicht größer, sondern dank der Umverteilung von unten nach oben eher kleiner wird. Es helfen nur klare Gesetze, scharfe Kontrolle und harte Strafen. Nur der Bundestag kann die Verwendung von Antibiotika und Giften in der Nahrungsmittelproduktion untersagen, nicht Lieschen Müller an der Biotheke im Supermarkt!

Die Ökobewegung und die Atomkraftgegner sollten also weniger auf die Veränderung des persönlichen Handelns abzielen – damit kann man wunderbar jede politische Forderung zerreden – und sehr viel politischer auftreten. Natürlich ist es schön, wenn jetzt viele Bürger endlich ihren Stromlieferanten wechseln und Ökostrom beziehen, aber dadurch wird das Problem nicht gelöst. Die Atomkraft lässt sich nur per Gesetz beseitigen. Durch das Ausstiegsgesetz der rot-grünen Koalition, das die schwarz-gelbe Atomkoalition letztes Jahr verwässert hat. Das Rumgehampel von Merkel kurz vor den Landtagswahlen und ihr Pseudo-Moratorium, das bei einigen Kommentatoren mit Recht Erinnerungen an Weimar weckt, ist dazu nicht geeignet. Sie ist momentan vermutlich die einzige in Deutschland, die in Panik gerät. Bei der Antiatomkraftbewegung würde ich eher von ›German Wut‹ sprechen. Vielleicht lässt sich mit diesem Meme ja der Wutbürger internationalisieren.

Literatur

„German Atom-Angst“: Die spinnen, die Deutschen! In: Spiegel Online (2011). Internet: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/german-atom-angst-die-spinnen-die-deutschen-a-751683.html. Zuletzt geprüft am: 13.9.2014.

Fußnoten


  1. „German Atom-Angst“: Die spinnen, die Deutschen! In: Spiegel Online (2011). Internet: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/german-atom-angst-die-spinnen-die-deutschen-a-751683.html. Zuletzt geprüft am: 13.9.2014. ↩︎