Demokratie ist die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit
Seit der Volksabstimmung in Baden-Württemberg über den Weiterbau von Stuttgart21 habe ich Zweifel bekommen, ob die Demokratie die beste aller Regierungsformen ist – oder, wie Winston Churchill es ausgedrückte, die schlechteste mit Ausnahme aller anderen.
Wie sichert man die Qualität von Entscheidungen?
Mit der Volksabstimmung, also einem Akt der direkten Demokratie, ist der Bahnhofsneubau nun vom Souverän legitimiert. Das Volk hat gesprochen. Ein echter Demokrat darf nun kein Veto mehr einlegen. Wer aber auf die Qualität der Entscheidung schaut, der bleibt ziemlich ratlos zurück. Denn nun wird ein funktionierender Bahnhof durch einen sündhaft teuren neuen Bahnhof ersetzt, der nach Aussage vieler Experten nicht annähernd so leistungsfähig sein wird wie der alte. Der Bau wird astronomische Summen verschlingen. Ob sich die Planungen technisch mit einem vertretbaren Aufwand überhaupt realisieren lassen, ist fraglich. Es gibt eine ganze Reihe von sehr schwerwiegenden Einwänden gegen den Bahnhofsneubau. Sie sind aber alle zunächst von den Politikern und Lobbyisten der Bauunternehmen und dann vom Volk durch seine Mehrheitsentscheidung einfach vom Tisch gewischt worden. Jetzt wird gebaut, koste es, was es wolle. Mit der Entscheidung zum Bau hat sich das Volk im Ländle gebunden, wer nun noch auf Kostengrenzen verweist, begeht Augenwischerei.
Zugegeben, die Volksabstimmung konnte den mangelhaften Planungsprozess, der seit mehr als zwei Jahrzehnten andauert, nicht korrigieren. Der Bürger hatte lediglich die Möglichkeit, der Landesregierung zu empfehlen, die Reißleine zu ziehen, das Projekt zu stoppen und mit einem – wenn auch sehr schmerzhaften – blauen Auge davonzukommen. Aufgrund der bereits unterzeichneten Verträge konnten die Befürworter des unterirdischen Neubaus den Wähler damit verunsichern, dass Milliarden an Strafzahlungen auf das Land zukämen, wenn nicht gebaut würde. Das Schüren dieser Angst war offensichtlich erfolgreich. Wenn man ohnehin blechen muss, sagte sich die Mehrheit der Wähler, dann lieber für einen Neubau als dafür, dass nicht gebaut wird.
Ist die verfahrene Situation aber ein Mangel der Demokratie? Demokratie lebt vom Streit der Meinungen und wer die besseren Argumente hat oder einfach nur mehr Angst sät, wird über den Gegner obsiegen. Kann man der Demokratie anlasten, dass es korrupte Medien gibt, die sich von Lobbyisten vor ihren Karren spannen lassen? Kann man es der Demokratie anlasten, dass Politiker in einem Planungsverfahren formal alle demokratischen Gepflogenheiten einhalten, aber keinerlei wirkliche Kritik am Projekt zulassen? Führt also die Demokratie zu schlechten Entscheidungen oder bloß ihre mangelnde Verwirklichung?
Mehrheitsentscheidungen vernichten Information
Wenn es in einem demokratischen Gemeinwesen immer wieder zu eklatanten Fehlentscheidungen kommt, dann darf man den Grund dafür nicht nur in korrupten Politikern, im Fraktionszwang, dem schädlichen Einfluss der Bildzeitung oder dem kurzen Gedächtnis des Wählers suchen. Dann muss man den Fehler im Grundprinzip der Demokratie suchen: der Mehrheitsentscheidung. Bei Mehrheitsentscheidungen fallen im Extremfall 49% aller Stimmen unter den Tisch. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich unter diesen Stimmen auch jene befinden, die in der Sache recht haben oder ein wichtiges Argument gegen die Entscheidung anführen können, das im Interesse vieler oder gar aller unter keinen Umständen außen vor bleiben darf, ist sehr hoch.
Demokratie ist die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Offene Fragen werden quasi in einem Wettstreit durch Abstimmung und nicht durch Vernunft entschieden. Entscheidungen in einer Demokratie legitimieren sich dadurch, dass die Mehrheit hinter ihnen steht. Ob die Minderheit jedoch hinter der Entscheidung steht oder sie sabotiert, ist eine ganz andere Frage. Doch selbst wenn die unterlegene Minderheit die Mehrheitsentscheidung akzeptiert, heißt das noch lange nicht, dass die Entscheidung gut ist. Im Gegenteil! Die Argumente der Minderheit fallen bei Mehrheitsentscheidungen unter den Tisch. Ihr Wissen wird für die Lösung nicht angewendet. Wenn man Entscheidungen als Informationsverarbeitungsprozess betrachtet, dann werden bei jeder Entscheidung bis zu 49% aller Informationen in einer Mehrheitsentscheidung einfach weggeworfen. Mehrheitsentscheidungen vernichten Information anstatt sie in die Entscheidung zu integrieren. Was für eine Verschwendung von Ressourcen! Durch Mehrheitsentscheidungen werden Argumente überstimmt, die vielleicht den einzigen Schlüssel zu einer wirklichen Lösung beinhalten. Können wir uns das eigentlich leisten? Wenn wir für ein Problem eine Lösung suchen, so sind wir doch an der besten Lösung interessiert und nicht an einer Lösung, die von der Mehrheit der Anwesenden befürwortet wird!
Wettkampf statt Problemlösungsprozess
Wenn elf Bundestagsabgeordnete beim Besuch einer Tropfsteinhöhle verschüttet werden, werden sie sich ganz sicher schnell zusammenraufen und gemeinsam einen Ausweg aus ihrer fatalen Lage suchen. Sie werden die Ratschläge eines Geologen beherzigen, auch wenn er aus einer anderen Partei kommt. Sie werden das Wissen eines Ortskundigen nutzen, der die Höhle schon mehrmals besucht hat, um zu einem zweiten Ausgang zu gelangen – ganz egal, ob es ein Parteifreund ist oder nicht. Sie werden jeden unnötigen Streit vermeiden, weil sie genau wissen, dass es nicht darum geht, die Mehrheit hinter sich zu scharen, sondern darum, wohlbehalten wieder ins Freie zu kommen. Im Meinungsstreit der Demokratie sind die Parteien leider überhaupt nicht daran interessiert, ein Problem durch gemeinsame Anstrengung zu lösen. Sie suchen nicht das Gemeinsame. Sie tun vielmehr alles, um sich möglichst klar und eindeutig voneinander abzugrenzen. Die Minderheit versucht der Mehrheit Knüppel zwischen die Beine zu werfen, um sie davon abzuhalten, das Problem während ihrer Regierungszeit zu lösen, in der Absicht sie damit beim Wähler zu diskreditieren. Und die Mehrheit weist die Vorschläge der Minderheit brüsk zurück, um ihre alleinige Lösungskompetenz nicht in Frage zu stellen. Kurz gesagt: Politiker und Parteien in einer Demokratie wollen nicht das Problem lösen, sondern als Sieger vom Platz gehen.
Wenn die beiden Parteien nahezu gleich stark sind, wird das Gemeinwesen nicht selten handlungsunfähig. Wir erleben dies an der gegenseitigen Blockade von Bundestag und Bundesrat in Deutschland oder der gegenseitigen Blockade der Demokraten und Republikaner in den USA, die das Land beinahe zahlungsunfähig gemacht hat. Der Wettstreit der Parteien überlagert alles andere. Die ganze Energie wird ausschließlich dazu genutzt, den Gegner zu übertrumpfen und auszutricksen.
Dass dies nicht so weitergehen darf, ist offensichtlich. Doch gibt es eine Alternative zur Demokratie, wie wir sie kennen?