Von der Theorie in die Praxis: Soziokratie in Unternehmen

Die Soziokratie hat sich seit Lester Frank Ward weiterentwickelt und wurde zu einer Organisationsform in Wirtschaftsunternehmen. Sie ist keine bloße Theorie, sondern hat sich in der Praxis bewährt.

Niederländische Tradition der Soziokratie

Mitte des 20. Jahrhunderts hat der niederländische Reformpädagoge Kees Boeke den Begriff der Soziokratie konkretisiert. Die Soziokratie basiert nach ihm auf zwei Prinzipien.

  1. der Gleichberechtigung aller Beteiligten
  2. dem Prinzip des Einverständnis (Konsent)

Die Gleichberechtigung in einer Soziokratie wird nicht dadurch verwirklicht, dass ein Mensch eine Stimme hat und dann diese seine Stimme in Mehrheitsentscheidungen gezählt wird, sondern durch den Grundsatz, dass eine Entscheidung nur getroffen werden kann, wenn niemand der Anwesenden einen schwerwiegenden und begründeten Einwand dagegen vorbringen kann. Der Einzelne ist in einer Soziokratie mächtiger als in einer Demokratie, wo er jederzeit von der Mehrheit überstimmt werden kann.

Damit der Einzelne aber wichtige Entscheidungen nicht einfach willkürlich blockiert, wird nicht danach gefragt, ob alle einer Entscheidung zustimmen, sondern ob jemand einen begründeten Einwand gegen die Entscheidung vorbringen kann. Es ist nicht Zustimmung, sondern Einverständnis gefragt.

Die Kreisorganisationsmethode in der Unternehmensführung

1970 erprobte Gerard Endenburg die Gedanken Boekes in der Praxis und führte in dem elektrotechnischen Unternehmen, das er zwei Jahre zuvor von seinen Eltern übernommen hatte, die Soziokratie ein. Nach einigen Versuchen entstand die Sociocratische Kringorganisatiemethode, die soziokratische Kreisorganisationsmethode.

Laut Endenburg gibt es vier Grundprinzipien in der Soziokratie:

  1. Der Konsent regiert die Beschlussfassung.
  2. Die Organisation wird in Kreisen aufgebaut, die innerhalb ihrer Grenzen autonom ihre Grundsatzentscheidungen treffen.
  3. Zwischen den Kreisen gibt es eine doppelte Verknüpfung, indem jeweils mindestens zwei Personen an beiden Kreissitzungen teilnehmen: ein funktionaler Leiter (Manager) sowie mindestens ein Delegierter.
  4. Die Kreise wählen die Menschen für die Funktionen und Aufgaben im Konsent nach offener Diskussion.

Angewendet wird die soziokratische Kreisorganisationsmethode in einigen Unternehmen und Organisationen vor allem in den Niederlanden. Beispiele sind die Boeddhistische Omroep Stichting1 und die Iederwijs-Schulen.2

Das Konsent-Prinzip

Im ersten und vierten Prinzip wird der Konsent erwähnt. Beschlüsse werden durch Konsent gefasst und Personen werden durch Konsent gewählt. Wie funktioniert Letzteres im Einzelnen? Wenn in einer Gruppe Aufgaben verteilt werden, so soll zunächst über den Zuschnitt der Aufgabe, den Verantwortungsbereich der Funktion offen diskutiert werden. Anschließend wird aus dem Kreis die Person ausgewählt, die die Funktion besetzen soll. Jeder Teilnehmer der Versammlung soll einen Kandidaten vorgeschlagen und begründen, warum er ihm geeignet erscheint. Es wird schließlich der Kandidat gewählt, gegen den es keine begründeten Einwände gibt. Wenn sich die Gruppe nicht auf eine Person einigen kann, muss die Funktion, also das Aufgabengebiet und der Verantwortungsbereich der Position geändert werden.

Entscheidungsfindung im Alltag

Die Entscheidungsfindung auf Basis von Konsent ist weiter verbreitet als man denkt. Sie wird von kleinen Gruppen, zum Beispiel bei der Organisation von Freizeitbeschäftigungen meist ganz spontan angewendet. Wenn fünf Personen zusammen etwas unternehmen wollen, dann werden sie sich mit Hilfe der Konsent-Methode auf etwas einigen, das niemandem gegen den Strich geht. Im beruflichen Umfeld, aber auch in Nonprofit-Organisationen wie Vereinen, wird die Konsent-Methode ebenfalls oft unbewusst angewendet.

Ein Beispiel aus dem Vereinsleben

Ich bin seit einigen Jahren im Vorstand eines Software-Vereins. Wir haben im Vorstand bei wichtigen Entscheidungen immer unbewusst die Konsent-Methode angewendet. Entscheidungen wurden so lange diskutiert, bis sie unserer Meinung nach entscheidungsreif waren. Die Entscheidungsreife zeichnete sich dadurch aus, dass gegen die Beschlussfassung keine schwerwiegende Einwendung mehr gemacht wurde. Wir sind mit der Konsent-Methode bisher gut gefahren. Sie half uns dabei, auch schwierige Situationen wie die Umbenennung und Neuorientierung des Vereins zu meistern. Wenn ein Vorstandsmitglied ein ungutes Gefühl hatte, haben wir versucht, dem Grund dafür auf die Spur zu kommen. Ungute Gefühle sind oft gute Wegweiser, um negative Auswirkungen von Entscheidungen zu entdecken, die man bis dahin übersehen hatte. In einer Soziokratie gehören die unguten Gefühle Einzelner allen gemeinsam. Ein ungutes Gefühl ist oft ein schwerwiegender Einwand gegen eine Entscheidung, der lediglich sprachlich noch nicht angemessen ausgedrückt werden kann. Die Stärke des Gefühls ist dabei von großer Wichtigkeit. Wie oft haben wir bei intensiv diskutierten Problemen uns gegenseitig gefragt, ob wir mit der angepeilten Entscheidung leben können! Die wichtigste Frage war: Kannst du mit der Entscheidung leben?

Damit wären wir bei der Definition des ›schwerwiegenden Grundes‹. Hinter diesem Begriff steckt eine mechanistische Analogie. Endenburg war Ingenieur und hat bei der Entwicklung seiner soziokratischen Managementmethode oft mit technischen Analogien gearbeitet. Bei einem Auto kann man die einzelnen Teile nicht grenzenlos belasten. Ein Stoßdämpfer kann nur innerhalb bestimmter physikalischer Grenzen einwandfrei funktionieren. Das Gleiche gilt für den Motor. Man kann nicht einfach die Entscheidung fällen, auf Öl zu verzichten. Der Motor würde sehr schnell heiß laufen und kaputt gehen. Gegen die Entscheidung, auf Öl zu verzichten, hat der Motor einen schwerwiegenden Grund anzuführen: er kann ohne Öl seine Aufgabe nicht erfüllen.

Wenn man diese Analogie auf ein Unternehmen oder eine Organisationen überträgt, so heißt das Folgendes: Eine Entscheidung, durch die ein Teil der Organisation seine Aufgabe im Ganzen nicht mehr erfüllen kann, darf nicht gefällt werden, weil dadurch auch die Mission des Ganzen in Gefahr gerät. Die Aufgaben der Teile ergeben sich aus den Zielen, der Mission und der Vision des Ganzen. Im soziokratischen Entscheidungsprozess werden die Ziele des Ganzen und die Leistungsfähigkeit der Teile in rekursiver Form bei der Entscheidungsfindung stets berücksichtigt.

Bei der Verteilung der Aufgaben innerhalb unseres Vereinsvorstandes haben wir ebenfalls das Konsentprinzip angewendet. Wir haben Aufgaben stets an die Person vergeben, die sie unseres Erachtens am besten erfüllen konnte. Ein Entwickler übernahm die Verwaltung der Server, ein Werbetexter die Kommunikation und ein kaufmännischer Geschäftsführer wurde Kassenwart.

Kreisorganisation: Autonomie und Integration

Im zweiten und dritten Grundprinzip ist von Kreisen die Rede. Die Kreise sind innerhalb ihrer Grenzen autonom und entscheiden nach dem Konsentprinzip. Mit anderen Kreisen sind sie durch doppelte Verknüpfungen verbunden. Die folgende Abbildung soll dies am Beispiel einer Unternehmenshierarchie verdeutlichen.

Entscheidungskreise mit doppelten Verknüpfungen

Kreisorganisation

Entscheidungskreise mit doppelten Verknüpfungen

Der oberste Kreis besteht aus dem Geschäftsführer des Unternehmens, aus externen Beratern, die von den Eigentümern und der Kommune benannt werden, und aus mindestens einem Vertreter des allgemeinen Kreises, der von diesem in den obersten Kreis entsendet wird und dort gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung mitarbeitet. Der oberste Kreis bestimmt unter Anwendung des Konsentprinzips den operativen Leiter des allgemeinen Kreises, der dort das Tagesgeschäft leitet. Die Prinzipien, nach denen der allgemeine Kreis arbeitet, wird in diesem Kreis selbst durch Konsent festgelegt. Dabei ist der allgemeine Kreis an die strategischen Vorgaben des obersten Kreises gebunden.

Der allgemeine Kreis benennt mit Hilfe des Konsentprinzips die Leiter der Abteilungen, die dort das Tagesgeschäft leiten. Gleichzeitig entsenden die Abteilungen Vertreter in den allgemeinen Kreis, die dort gleichberechtigt an Konsententscheidungen beteiligt sind.

Autonomie und doppelte Verknüpfung gewährleisten Folgendes.

  1. Die Interessen des nächstniedrigeren Kreises kommen im nächsthöheren Kreis durch den Vertreter zur Geltung, der in alle Entscheidungen nach dem Konsentprinzip eingebunden ist. Der Vertreter des nächstniedrigeren Kreises ist auch an der Wahl des operativen Leiters seines eigenen Kreises beteiligt, da er in dem Gremium mit entscheiden kann, das den Leiter seines eigenen Kreises wählt.
  2. Die Interessen des nächsthöheren Kreises kommen im darunter liegenden Kreis zur Geltung, da der operative Leiter des Kreises vom höheren Kreis benannt wird.
  3. Die Kreise entscheiden über ihre Belange autonom. Damit ist die Selbstorganisation der Kreise gewährleistet. Entscheidungen fallen dort, wo sie Auswirkungen haben.
  4. Gleichzeitig ist durch die doppelte Verknüpfung sichergestellt, dass sich die Kreise nicht verselbstständigen, sondern in der Organisation integriert bleiben.

In einer soziokratischen Organisation sind die Einheiten also einerseits sehr viel autonomer als in traditionellen Hierarchien, andererseits sind sie jedoch von unten nach oben und von oben nach unten durch die doppelten Verknüpfungen sehr stark integriert.

Die Information zirkuliert durch die doppelten Verknüpfungen in einer soziokratischen Organisation sehr viel effizienter als in einer hierarchischen. Dadurch wird die Qualität der Entscheidungen, die bereits durch das Konsentprinzip sehr hoch ist, noch einmal verbessert.

Kehren wir von hier noch einmal zu Lester Frank Ward zurück, der gefordert hat, dass die Gesellschaft so egoistisch und effizient wie das Individuum ihren eigenen Vorteil verfolgen soll. Eine Gesellschaft, die dies leisten soll, muss hoch integriert sein und gleichzeitig muss sie ihren Mitgliedern die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglichen. Unsere heutige westliche Demokratie kann weder das eine noch das andere leisten. Sie spaltet die Gesellschaft vielmehr in Mehrheit und Minderheit, in Arm und Reich, in Volksvertreter und Bürger, in Parteien und Interessenverbände auf der einen und Ausgegrenzte und Marginalisierte auf der anderen Seite. Während die wenigen Reichen ihre Persönlichkeit frei entfalten können, ist den armen und ausgegrenzten Schichten der Gesellschaft eine Teilhabe am sozialen Leben kaum noch möglich. Eine Politik im Interesse des ganzen Volkes scheitert daher nicht allein am fehlenden Willen und der mangelnden Integrität unserer Volksvertreter, sondern an der Desintegration der Gesellschaft insgesamt. Die Gesellschaft als Ganzes ist nicht in der Lage sich zu artikulieren. Meinungsumfragen sind für eine aus echter Selbstorganisation erwachsene Stimme ebenso wenig ein Ersatz wie Volksabstimmungen, in denen strittige Fragen im Wettkampf entschieden werden sollen.

Um der gesamten Gesellschaft eine Stimme zu geben, um sie zu einem Individuum zu machen, das sich selbstständig artikulieren kann, müssen wir mehr Soziokratie wagen.

Literatur

Home - Boeddhistische Omroep Stichting. 2011. Internet: http://www.bosrtv.nl/. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014.

Iederwijs-Schule. In: Wikipedia. 2013. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Iederwijs-Schule&oldid=116741388. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014.

Fußnoten


  1. Home - Boeddhistische Omroep Stichting. 2011. Internet: http://www.bosrtv.nl/. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014. ↩︎

  2. Iederwijs-Schule. In: Wikipedia. 2013. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Iederwijs-Schule&oldid=116741388. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014. ↩︎