Schnapszahl
Heute fällt der Tag der Deutschen Einheit zum zweiundzwanzigsten Mal auf den 3. Oktober. Davor feierten wir ihn sechsunddreißig Mal am 17. Juni. Zweiundzwanzig – eine Schnapszahl und ein guter Anlass für unsortierte Gedanken.
Wenn man in einem System aufwächst, hält man es zwar nicht unbedingt für gottgegeben, aber man empfindet es als den Normalfall. Für meine Generation, die im geteilten Deutschland aufgewachsen ist, war diese Teilung der Welt viele Jahre lang gewohnter Alltag. Dass es zwei deutsche Staaten gab, war für uns völlig normal. Es gab unserem Leben sogar eine gewisse tragische Größe. Die Teilung machte Deutschland zum Nabel der Welt, wo Ost und West aufeinandertrafen und sich mit atomarer Vernichtung bedrohten. Historisch, dass wussten wir, war Deutschland an seiner Teilung selbst Schuld. Es hatte den Zweiten Weltkrieg entfacht und Vernichtungslager errichtet. Es hatte Europa in ein einziges großes Grab verwandelte. Diese Schuld rückte Deutschland ins Zentrum der Welt und ließ es wichtiger erscheinen, als es war.
Für die Generation meiner Eltern war der Krieg das Normale, das Alltägliche: die Bombennächte, die Flakeinsätze, die Landverschickung. Für sie waren der Zusammenbruch und der Frieden das Neue – wie für mich der Zusammenbruch des Ostblocks und die Wiedervereinigung.
22 Jahre danach ist das Reisen in die Städte jenseits des Eisernen Vorhangs Alltag geworden. Aber es gibt Momente, in denen ich mitten in einer ostdeutschen Stadt stehe und mir plötzlich bewusst wird, dass dies vor wenigen Jahren eine völlig ungewöhnliche Situation gewesen wäre. Ähnliches müssen meine Eltern jeden Samstagmittag um 12 Uhr erlebt haben, wenn die Sirenen Probealarm gaben. Sie schreckten auf und erinnerten sich daran, dass sie sich vor wenigen Jahren auf dieses Zeichen hin in die Keller verkrochen hatten.
Mein Begriff von der Einheit Deutschlands, derer wir 36 Jahre lang am 17. Juni, dem Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR, gedenken mussten, war bis zum Mauerfall immer ein historischer. Ich hatte weder ein geeintes Deutschland, noch den Bau der Mauer miterlebt. Der 17. Juni erschien mir wie ein historisches Ritual. Und da ich die Einheit Deutschlands nicht wieder gewonnen, sondern bloß neu gewonnen habe, empfinde ich auch den 3. Oktober als einen seltsam blutleeren Feiertag. Er ist zudem mit dem Makel der Willkür behaftet. Der 3. Oktober ist das Datum eines Verwaltungsaktes auf Geheiß des Kanzlers. Der Gedenktag lebt nicht, er bleibt dürftig. Der 17. Juni, der Gedenktag des Kalten Krieges, war immerhin noch ein Tag, der mit Ingrimm begangen wurde. Er wurde von Gefühlen regiert, was ich bis heute anerkenne, auch wenn ich die Leidenschaft der Feiernden für Revanchismus hielt. Es war ein Tag, an dem Blut vergossen worden war.
Was ist nun aber für die Generation meiner Söhne der Normalfall? Das ist eine schwierige Frage, die ich nicht beantworten kann. Vielleicht ist für sie eine Welt normal, die von einem Prozent der Bevölkerung ausgeplündert wird, eine Welt, in der für Banken immer genug und für Bildung immer zu wenig Geld vorhanden ist, eine Welt, in der Menschen wieder aus religiösen Gründen morden. Vielleicht ist für sie aber auch die Welt des Internets der Normalfall. Ich könnte sie fragen. Aber auf eine Antwort müsste ich lange warten. Es dauert, bis man sich der Welt, in der man aufwächst, bewusst wird. Das ist keine Frage, auf die man jederzeit eine Antwort parat hätte.
Meine Eltern, meine Söhne und ich – drei Generationen, die zeitweise zusammen auf diesem Planeten und doch in verschiedenen Welten gelebt haben. Zusammen kommen diese Welten nur in der Erzählung. Die Erzählung, die mehr als historische Fakten vermittelt, lässt den Zuhörer den Normalfall in einer anderen Welt erleben. Das mag im Privaten gelingen oder in der Öffentlichkeit der Literatur. Aber leistet die heutige Literatur, in der Fantasy wie Unkraut wuchert, diese Vermittlung noch? Überall schießen unverortete Geschichten, die im Nirgendwo zu Hause sind, wie Pilze aus dem geschäftigen Boden der Kulturindustrie? Ist den heutigen Autoren ihr eigenes Leben so unwichtig, dass sie zu mehrfach verdünnten Phantasmagorien Zuflucht nehmen? Interessieren sich die heutigen Leser gar nicht mehr für das, was früher oder anderswo passierte?
Mir bleibt jeder Mensch ein Rätsel, dessen Geschichte ich nicht kenne, in dessen Normalität ich nicht wenigstens für 300 Seiten versinken kann. Fremde bleiben mir fremd, so lange ich ihre Erzählung nicht vernommen habe. Vielleicht erwächst aus dieser Erkenntnis eine taugliche Definition für Schundliteratur: Schundliteratur ist Literatur, in der keines Menschen Geschichte zur Sprache kommt.
Doch kommen wir zurück zum Tag der Deutschen Einheit. Als ich jung war und im geteilten Deutschland lebte, konnte ich mir lange Zeit kein anderes Deutschland vorstellen. Die Teilung hatte eine ontologische Selbstverständlichkeit wie die Farbe des Himmels und der Geruch des Meeres. Heute weiß ich, dass nichts bleibt wie es ist, dass alles anders wird, dass die Normalität von heute morgen Skandal und Ausnahme ist. Mit den Jahren habe ich erlebt, wie wir selbst ohnmächtig-mächtig Teil der Veränderung werden, wie Veränderungen Macht über uns gewinnen und wie wir sie gleichzeitig selbst bewirken.
Solange aber Veränderung möglich ist, können wir den Lauf der Welt beeinflussen. Ob das nun für die junge Generation eine Drohung, ein Trost oder ein motivierender Anstoß ist, müssen sie schon selbst entscheiden.