Klemperers Tagebücher
Jeder sollte die Tagebücher von Victor Klemperer lesen. Aber man sollte mit dem Lesen nicht beginnen, wenn eine Erkältung im Anmarsch ist, die einen für zwei oder mehr Tage ans Bett fesselt. Denn dann ist die Lektüre im höchsten Maße deprimierend. Vielleicht sollte man Klemperer auch lieber lesen, wenn man jung ist. Ich bin heute etwa in dem Alter, in dem Klemperer war, als die Nazis die Macht ergriffen. Ich teile zwar seine Hypochondrie nicht, aber wenn man die Fünfzig erreicht hat, beginnt man die verbleibenden Jahre zu zählen. Man geizt mit seiner Zeit, da man mittlerweile realistischer abschätzen kann, was man in seinem Leben noch leisten kann. Ein großes Umsonst steht ständig wie der Sensenmann hinter einem. Darüber können auch glückliche Tage nicht hinwegtrösten.
Ihre Wirkung auf den Leser verdanken die Tagebücher natürlich dem Wissenvorsprung, den der Leser vor dem Autor hat. Wenn wir lesen, welche Alltagsprobleme Klemperer zu Beginn der Nazidiktatur belasten, so läuft es einem kalt den Rücken herunter, weil man weiß wie die Geschichte weitergeht. Auch in den späteren Jahren, wenn der Terror der Nazis bereits offen wütet, ist man dem Autor voraus. So liest man mit größter Beklemmung, wenn Menschen aus seiner Umgebung ›abgeholt‹ und deportiert werden, weil der heutige Leser alles über Auschwitz weiß, während es für Klemperer lediglich ein dunkler Ort in Polen ist, von dem in Gerüchten Furchtbares berichtet wird.
Das bestimmende Thema in den ersten Jahren der Diktatur, ist das Haus. Trotz bedrängtester finanzieller Lage baut er, um seiner Frau Eva einen Gefallen zu tun, ein Haus. Später macht er sogar ihr zuliebe den Führerschein und kauft ein Auto. Sie können sich beides eigentlich nicht leisten, doch um das ominöse Leiden Evas zu lindern, lässt Klemperer es zu, dass alle finanziellen Reserven aufgebraucht werden. Nur ein Scheck seines Bruders aus den USA hilft den völligen Bankrott zu verzögern.
Doch Klemperers Tagebücher sind nicht nur ein einzigartiger Blick in das Leben eines Ehepaars in den besten Jahren. Es ist auch ein unschätzbar wertvoller Blick in den Alltag und die Psychologie der Menschen im Dritten Reich. Klemperer beschreibt ein gärendes und verängstigtes Deutschland, in dem nur wenige Menschen fanatische Anhänger Hitlers sind. Natürlich ist dieses Bild durch die Brille der verzweifelten Hoffnung gefärbt, dass der Spuk bald vorbei sein möge. Der Zeitgenosse, so wird Klemperer nicht müde zu betonen, weiß nichts von der Geschichte. Eine Erkenntnis, die man so manchem politischen Kommentator von heute wünscht.
Klemperer wird schließlich aus dem Dienst entlassen, arische Bekannte wenden sich von ihm ab und jüdische Bekannte emigrieren. 1936 zur Zeit der Olympiade erscheinen sie völlig vereinsamt. Mit wachem Blick registriert er, wie das Dritte Reich funktioniert. Erst drei Jahre nach der Machtergreifung werden die Stimmen in seiner Umgebung, die dem Regime ein nahes Ende prophezeien, stiller. Bis dahin haben sich viele Menschen mit den absurdesten Ideen über Wasser gehalten. Der Stahlhelm ließe sich nicht so einfach entmachten. Die Reichswehr würde putschen. Das Land würde finanziell zusammenbrechen. Dies alles liest sich aus heutiger Sicht gespenstisch.
Doch das Schlimmste ist die Erkenntnis, dass es heute nicht anders ist. Natürlich sind die Machthaber heute ganz anders als die Nazis, doch das Volk scheint immer noch das Gleiche zu sein. Lethargisch sehen wir zu, wie wir das Klima auf unserem Planeten ruinieren, wie der Sozialstaat zerstört, Gemeinschaftseigentum an Superreiche verschleudert wird und wie die kriminelle Finanzbranche sich an unseren Steuergeldern bereichert. Die Katastrophen, die sich heute anbahnen, sind natürlich nicht mit der Shoah, dem Zweiten Weltkrieg oder der totalen Verwüstung Europas zu vergleichen. Dafür sind es unsere Katastrophen. Wenn man Klemperers Tagebücher liest, so fragt man sich, wo die Millionen, die hinter Hitler standen denn wirklich waren? Die Menschen haben Scheuklappen aufgesetzt und aus Angst vor dem Bolschewismus kapituliert. Wegen dieses Popanzes haben sie ihre Freiheit, ihr bisschen Wohlstand und schließlich ihr Leben weggeworfen. Man liest Klemperers Aufzeichnungen aus den 30er Jahren und glaubt sich in das Deutschland der Terrorangst und der Bankenkrise versetzt. Aus Angst vor dem Zusammenbruch der Finanzwirtschaft schenken wir den Spekulanten Milliarden und stoßen damit die nächsten drei Generationen in die Zinsknechtschaft. Aus Angst vor dem islamischen Terror haben wir den Rechtsstaat liquidiert, die Freiheit zerstört und das vernünftige Denken ausgeschaltet.
Doch es gibt leider noch mehr Parallelen. Irgendjemand muss die Vernichtungsmaschinerie der Nazis ja in Betrieb gehalten haben. Eine Korrektur kam nicht in Frage. Der Krieg musste bis zum völligen Zusammenbruch geführt werden. Das ist heute nicht anders. Fehler werden auch heute noch nicht korrigiert. Selbst die irrationalsten und schwachsinnigsten Entscheidungen werden nicht revidiert. Würde eine Gemeinschaft, die fähig ist, aus Fehlern zu lernen, einen Bahnhof für Milliardenunsummen tieferlegen, ohne auch nur einen Funken mehr Effizienz dadurch zu gewinnen? Scheuklappen. Tunnelblick. Starrsinn bis zum Untergang.
Lest Klemperer! Aber nur, wenn keine Grippe im Anzug ist.