Der stille Staatsstreich

Wir leben in einem Land, in dem ein stiller Staatsstreich stattgefunden hat. Die Parteien haben die Macht ergriffen und das Grundgesetz, die Demokratie und die Vernunft außer Kraft gesetzt. Die Piratenpartei könnte das ändern.

Es gibt keinen 30. Januar, von dem man sagen könnte, dass an diesem Tag die Parteien in unserem Lande die Macht an sich gerissen hätten. Das war ein schleichender Prozess oder einer, der bereits immer stattgefunden hat.

In Ostdeutschland übernahm bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine einzelne Partei die absolute Macht im Staate. Nur formal gab es ein Mehrparteiensystem.

In Westdeutschland wurde die NSDAP durch ein Mehrparteiensystem abgelöst, in dem sich schnell die kleine Oligarchie des Drei-Parteien-Systems herausbildete. Vordergründig traten die Parteien gegeneinander an, in Wirklichkeit aber liquidierten sie gemeinsam die Herrschaft des Volkes durch das Volk und machten sich selbst zum Souverän.

In beiden deutschen Staaten war die Parteienherrschaft schnell wieder eine totale. Im Westen beruhte sie auf einer Pervertierung von Artikel 21 des Grundgesetzes (»Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.«); im Osten auf der Diktatur des Proletariats.

Ohne Parteibuch war und ist  eine Karriere in der öffentlichen Verwaltung nahezu unmöglich. Überall entscheidet das Parteibuch über die Besetzung von leitenden Positionen. Und da Personalentscheidungen in nicht öffentlicher Sitzung beraten werden, erfährt der Bürger meist nur das Ergebnis der Postenschieberei in der Parteienoligarchie.

Die Entscheidungen in den Parlamenten werden nicht von Volksvertretern, sondern von den Parteiführungen gefällt. Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes (»Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (…) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.«) wurde niemals in der Bundesrepublik realisiert. Die Abgeordneten des Bundestages sind Parteisoldaten, die willfährig den Weisungen ihrer Parteiführung gehorchen.

Die Parteien betrachten das Gemeinwesen als ihre Beute, mit dem sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Der Wähler verschiebt alle vier Jahre lediglich den Anteil, den eine Partei vom Kuchen bekommt. Mal können die Schwarzen, mal die Roten mehr Posten verteilen. Mal sind die Gelben beim Raubzug dabei, mal die Grünen. Das Privileg der Parteien, wichtige Posten zu besetzen, wird niemals angetastet.

Für finanzstarke Lobbygruppen ist die Parteien-Oligarchie ein feuchter Traum. Hätten wir wirklich eine repräsentative Demokratie, in der das Volk seine Vertreter wählt, müssten die Lobbyisten tief in die Tasche greifen und viele einzelne Abgeordnete bestechen. Dank der Fraktionsdisziplin können sich die Lobbyisten auf die Parteiführung konzentrieren. Die politische Landschaft, die gepflegt werden muss, ist überschaubar. Wer in Deutschland ungehinderten Zugang zu einem Dutzend Personen hat, regiert das Land.

Parteien sind Organisationen und führen als solche ein Eigenleben. Der Erfolg einer Partei misst sich deshalb auch nicht daran, ob es den Deutschen besser oder schlechter geht, sondern daran, ob die Partei besser oder schlechter dasteht als andere Parteien.  Deshalb beschäftigen sich die Parteien auch selten damit, für die Probleme der Menschen Lösungen zu finden, sondern vor allem mit ihrem eigenen Erfolg. Und der lässt sich täglich an den Meinungsumfragen ablesen. Sie sind für Parteien, was Quartalszahlen für ein Unternehmen sind. Eine ganze Industrie von Talkmastern und Journalisten lebt von diesem Marketing-Zirkus der Parteien, wobei die Journalisten zu Produkttestern verkommen sind, die auf eine Karriere im getesteten Unternehmen schielen. Sie analyiseren weder die Probleme des Landes, noch die dünnen Lösungsangebote der Parteien. Mehr als ein wenig Celebrity-Journalismus ist selten drin im Blatt oder im Web. Alles starrt auf Umfrage- oder Wahlergebnisse, die einzige Währung, in der nicht nur hierzulande Politik betrieben wird. Anstatt sich mit den Problemen zu beschäftigen und an Lösungen zu arbeiten, entwickelt die Politik Marketingstrategien, um den Wähler von seinen wirklichen Interessen abzulenken. Und der Wähler kauft Politik wie Schokolade. Er achtet auf den Markenname und die Verpackung. Der Inhalt ist ihm gleichgültig. Es soll Wähler geben, die tatsächlich glauben, dass der Wahlerfolg ihrer Marke die Welt zum Besseren wenden würde. Selbst Apple-Fanboys haben eine realistischere Sicht auf die Dinge.

Die Piratenpartei ist die einzige, parteipolitisch organisierte Kraft in diesem Lande, die eine Gefahr für die Parteien-Oligarchie darstellt. Lose organisierte Gruppen, die gegen die Herrschaft der Parteien aufstanden, gab es schon oft: die APO, die Friedensbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Bürgerrechtler in der DDR, die Occupy-Bewegung. Die Piratenpartei ist die erste Bewegung, die – ja, es ist absurd – als politische Partei die Parteienherrschaft beenden will. Und sie tut sogar nach der Wahl, was sie vor der Wahl versprochen hat. Die Piratenfraktion im NRW-Landtag hat nicht wie üblich einen Abgeordneten in den WDR-Rundfunkrat entsendet, sondern diese Position ausgeschrieben.1 Die Medien berichteten derweil lieber über Menschliches und Allzumenschliches im Bundesvorstand. Die Revolution, die unser Land von den Parteien befreien könnte, beginnt ebenso still wie die Machtübernahme der Parteien.

Es gibt keine größere Gefahr für die Parteien-Oligarchie als die Forderung nach mehr direkter Demokratie. Allein schon die Positionen der Piraten im NRW-Wahlprogramm von 2012 sind eine offene Kriegserklärung an den Parteienstaat. Und das Nachdenken über internetbasierte, liquide Formen der Bürgerherrschaft ist für die Parteien-Oligarchie und die sie dirigierenden Lobbys schlichtweg der denkbar größte Alptraum.

Die Parteien werden ihre Herrschaft nicht kampflos aufgeben. Sie haben in den Lobbys und den Medien mächtige Verbündete. Sie können jedoch auch auf die Bequemlichkeit und die Trägheit der Bürger hoffen. Es ist eine alte Marketing-Weisheit, dass Marken die Komplexität von Kaufentscheidungen reduzieren. Ohne Marken müsste der Käufer jede Kaufentscheidung rational begründen. Ein Kraftaufwand! Eine Marke ersetzt Rationalität durch Emotion. Sie schenkt einfache Wahrheiten in einer unüberschaubaren Welt. Es wird schon gut sein, wenn ich diese bekannte Marke kaufe. Parteien – auch die Piratenpartei – tun nichts anderes. Sie entlasten den Wähler. Es wird schon richtig sein, wenn ich diese Partei wähle. Mit den Problemen des Landes kann und will ich mich gar nicht auseinandersetzen.

Die direkte Demokratie ist ein Lernprozess. Der Bürger muss schrittweise lernen, sich mit den Problemen seines Gemeinwesens und mit den Lösungsvorschlägen direkt zu beschäftigen und zwar kontinuierlich. Bis heute zeigt sich direkte Demokratie nur im aufflammenden Protest, wenn die Parteien-Oligarchie all zu dreist gegen das Gemeinwohl entschieden hat. Der Wechsel vom zu späten Protest zum proaktiven Bürgerengagement wird epochal sein. Um diesen Wechsel vorzubereiten, ist Bildung notwendig; keine Schulbildung, sondern ein Lernprozess in der Praxis.

Die Piratenpartei hat diesen Lernprozess angestoßen, und sie durchlebt ihn selbst. Sie stellt alles in Frage und probiert neue Wege aus. Zurzeit versucht sie herauszufinden, ob und wie weit Liquid Democracy die innerparteiliche Willensbildung bestimmen soll. Es gärt. Die Diskussion ist im vollen Gang. Die Piratenpartei ist ein Laboratorium der Zukunft. In einem Laboratorium wird experimentiert. Nicht jedes Experiment muss gelingen, aber jedes Experiment, auch das gescheiterte, sollte uns einer Lösung näherbringen. Wenn es der Partei gelingt, die neuen Wege erfolgreich zu gehen, wird dies die Gesellschaft verändern.

Die Piratenpartei ist die erste Partei, der es gelingen könnte, die Parteienherrschaft zu zerschlagen. Sie könnte jedoch auch wie die Grünen selbst Teil der Oligarchie werden. Solange dies aber nicht der Fall ist, bleibe ich Pirat!

Literatur

Ausschreibung Mitglieder Rundfunkrat Piratenfraktion im Landtag NRW - Blog der 20 Piraten – Klarmachen zum Ändern! 2013. Internet: http://www.piratenfraktion-nrw.de/2013/02/ausschreibung-mitglieder-rundfunkrat/. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Fußnoten


  1. Ausschreibung Mitglieder Rundfunkrat Piratenfraktion im Landtag NRW - Blog der 20 Piraten – Klarmachen zum Ändern! 2013. Internet: http://www.piratenfraktion-nrw.de/2013/02/ausschreibung-mitglieder-rundfunkrat/. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎