Sie treten in große Fußstapfen
Letzten Freitag war ich auf einer Milonga mit Livemusik. Ein Quintett spielte. Ihr Repertoire bestand aus vielen bekannten Stücken. Trotzdem war es schwierig nach ihrer Musik zu tanzen, da ihre Interpretation sich von den großen Vorbildern deutlich unterschied.
Gäbe es eine Zeitmaschine, so würde ich mit ihr ganz sicher einmal in die Goldene Epoche des Tangos nach Buenos Aires reisen, um all die wunderbaren Orchester, deren Musik wir so lieben, einmal live zu erleben. Die Orchester von Juan D’Arienzo, Francisco Canaro, Aníbal Troilo, Osvaldo Pugliese, Carlos di Sarli, Alfredo De Angelis, Edgardo Donato, Rodolfo Biagi und vielen anderen prägten die Geschichte des Tangos. Ohne sie gäbe es heute keine Tangoszene, denn wir tanzen nach ihrer Musik. Auf jeder Milonga ertönen Stücke, die sie in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgenommen haben.
Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, aus welchem Fundus an überragenden Musikern die Orchesterchefs damals schöpfen konnten. Es gab viele Orchester und zahllose gute Musiker, und sie spielten jeden Abend in den Cafés und den großen Tanzsälen in Buenos Aires und Montevideo. Die damaligen Musiker waren durch die vielen Auftritte Abend für Abend und die große Konkurrenz zwischen den Orchestern unglaublich virtuos. Wer Erfolg haben wollte, musste Musik spielen, die mitriss und zu der man tanzen konnte.
Natürlich gibt es auch heute großartige Musiker. Aber die Gelegenheiten, auf einer Milonga zu spielen, sind selten. Viele Musiker von heute lernen auf Akademien und nicht auf der Milonga. Sie geben Konzerte und spielen nicht zum Tanz auf. Daher gibt es geniale Solisten und gute Orchester, die wunderbar konzertant spielen können. Sie überzeugen das Ohr des Musikkenners, aber nicht die Beine des Tänzers. Orchester, die für Tänzer spielen können, sind selten. Und ein Orchester, das mit den großen Orchester der Goldenen Epoche mithalten könnte, ist weit und breit nicht zu finden. Geschichte wiederholt sich nicht!
Wenn ich mit der Zeitmaschine zurückreisen könnte, würde ich die Menschen in Buenos Aires fragen, ob sie sich bewusst sind, etwas Einmaliges zu erleben, etwas, das nie wieder kommen wird. Wahrscheinlich würden sie bloß die Achseln zucken, lachen und weitertanzen. Zeitgenossen wissen ihre Zeit nur selten zu würdigen.
Ich bewundere deshalb jeden Musiker, der sich heute dem Tango widmet. Denn es gibt wohl in kaum einer anderen Musikrichtung so große Vorbilder, denen man zwangsläufig nacheifern muss. Ein Orchester, das klassische Tangostücke spielt, muss sich mit Vorbildern messen lassen, die niemals zu erreichen sind. Man stelle sich einen Jazztrompeter vor, der hauptsächlich Stücke von Miles Davis spielen müsste. Ein ungeheurer Druck muss auf den Tangomusikern von heute lasten. Jeder erwartet, dass sie so spielen wie die großen Musiker der Época de Oro und trotzdem den Tango durch eine eigene Note tradieren und lebendig erhalten. Sie können eigentlich nur verlieren.
Dass sie trotzdem spielen, um uns eine Freude zu machen, ist einfach großartig.