Die Apokalypse der fünf Augen
Apokalypse ist ein griechisches Wort. Es bedeutet Enthüllung. Im christlichen Kontext steht das Wort für die Offenbarungen des Jüngsten Gerichts, wenn jeder Mensch, der jemals gelebt hat, gerichtet wird. Gott weiß alles. Gott sieht alles. Religiösen Fanatikern leuchtet die Logik der totalen Überwachung des Internets sofort ein. Werdet fromm oder die fünf Augen werden euch am Ende aller Tage richten!
Google-Manager Eric Schmidt hat es einmal auf den Punkt gebracht: »Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.« Er hat damit, unbewusst preisgegeben, worum es bei der Überwachung des Internets im Kern geht: um die Disziplinierung von Menschen im Angesicht einer allwissenden Macht, die jeden deiner Schritte kennt und um jeden deiner Gedanken weiß.
Die Five Eyes (USA, England, Kanada, Australien und Neuseeland) hören weltweit jedes Telefonat ab, das durch Leitungen oder Satelliten übertragen wird, zu denen sie Zugang haben – und sie haben überall Zugang. Sie kontrollieren alle Daten, die auf Servern der großen IT-Giganten Google, Facebook, Apple oder Microsoft gespeichert sind. Sie lesen jede E-Mail, sie betrachten jedes gespeicherte Bild, sie analysieren jedes Adressbuch, jede Freundesliste und jeden Kalender. Über Hintertüren gelangen sie in jeden Rechner. Sie wissen alles. Sie sind wie die sieben Engel Gottes, und sie werden ihr Wissen eines Tages nutzen. Sie werden richten wie Jesus Christus beim Jüngsten Gericht. Denn die Idee zu PRISM und Tempora kommt direkt aus der christlichen Überlieferung.
»Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken.« (Aus der Offenbarung des Johannes)
In Schmidts Worten und im Wunsch nach totaler Überwachung versteckt sich das entgrenzte und unmenschliche Denken der Eschatologie. Der Glaube, dass das Reich Gottes kommt, wenn alles offenbar und alles bestraft oder belohnt worden ist: jedes Verbrechen und jede gute Tat. Wer gesündigt hat oder sich dem Reich Gottes widersetzt, wird in den feurigen Pfuhl geschleudert, wo die Schergen eines unmenschlichen Regimes ihn auf ewig quälen.
Der Kontrollfanatismus der fünf Augen ist ein religiöses Erbe. Die Apokalypse wurde miniaturisiert, sie passt nun auf jeden Mikrochip. Das fundamentale Grauen der Apokalypse, das jeder sofort spürt, der nicht religiös verblendet ist, ist Wirklichkeit geworden. Die totale Überwachung und die Visionen des Johannes entspringen dem gleichen menschenverachtenden Geist. Es ist der Geist der totalen Überwachung. Gott weiß alles! Gott sieht alles! Es ist der Geist des totalen Terrors. Du wirst für alles gerichtet, was du jemals getan oder gedacht hast. Es ist die Vernichtung jedes menschlichen Gefühls, jedes humanen Maßes. Freiheit, Individualität und die Verwirklichung des Selbst sollen ausgetrieben werden. Gefordert ist allein bedingungsloser Gehorsam.
Wer gegen diese Überwachungsdiktatur kämpft, ringt mit einer 2000 Jahre alten Überlieferung. Er streitet mit psychologischen Dispositionen, die in religiösen Gesellschaften wie der unsrigen tief verwurzelt sind. Man darf sich gar nicht vorstellen, welche religiösen Lustgefühle einen amerikanischen Evangelikalen durchfahren, wenn er plötzlich PRISM oder TEMPORA gegenübersteht.
Wenn man einmal verstanden hat, was Überwachung bedeutet, dann erweist sie sich als das Gegenteil der Aufklärung, die den Mensch und nicht den eschatologischen Fiebertraum eines Misanthropen in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Die totale Überwachung der fünf Augen ist die Materialisierung des schlimmsten und böswilligsten Alptraums, den sich Menschen jemals ausgedacht haben: der christlichen Apokalypse. Gegen dieses Denken hilft nur Aufklärung. Edward Snowden hat damit angefangen.