Der Rosskamm
Eine Stelle in »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« offenbart, wie verroht unsere Zeiten sind.
In dem wegen ganz anderer Dinge häufig zitierten Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« findet sich gegen Ende eine Stelle, in der uns Heinrich von Kleist schlagartig klar macht, wie verroht unsere Zeit ist.
»Vielleicht gibt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als grade ein öffentliches Examen. Abgerechnet, dass es schon widerwärtig und das Zartgefühl verletzend ist, und dass es reizt, sich stetig zu zeigen, wenn solch ein gelehrter Rosskamm uns nach den Kenntnissen sieht, um uns, je nachdem es fünf oder sechs sind, zu kaufen oder wieder abtreten zu lassen: es ist so schwer, auf einem menschlichen Gemüt zu spielen und ihm seinen eigentümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, dass selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebammenkunst der Gedanken, wie Kant sie nennt, auf das meisterhafteste bewandert wäre, hier noch, wegen der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner, Missgriffe tun könnte.«
Der 1777 geborene Kleist empfand ein öffentliches Examen als »widerwärtig und das Zartgefühl verletzend«. Nicht viel anders empfindet heute ein Mensch mit einem Mindestmaß an Sensibilität die Castingshows im Fernsehen, in der sich Menschen für einige Minuten trügerischen Ruhms erniedrigen und zum Affen machen. Diese Shows verspotten jede bessere menschliche Regung. Dass sie sich großer Beliebtheit erfreuen, ist ein Armutszeugnis für uns alle. Wir stehen als Mensch niedriger als unsere Vorfahren, denn wir haben in den letzten 200 Jahren an Humanität und Feingefühl verloren.
Nicht nur in Castingshows begegnen wir dem Rosskamm, der uns ins Maul sieht und die Zähne abzählt. Unser Leben ist eine lange Reihe von öffentlichen Examina, die für uns so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie nie in Zweifel ziehen. Es beginnt mit den U-Untersuchungen, die mit der Geburt einsetzen und uns bis fast zur Volljährigkeit begleiten. Der erste Rosskamm in unserem Leben prüft die Atmung, den Puls, die Reflexe beim Absaugen, die Farbe der Haut und den Muskeltonus. Zehn Punkte können wir bei diesem Examen erzielen. Zwölf weitere U-Untersuchungen folgen. Bei der letzten, J2 genannten, U-Untersuchung geht es um Pubertäts- und Sexualitätsstörungen, Haltungsstörungen, Kropfbildung, Diabetes sowie Sozialisations- und Verhaltensstörungen. Abgerundet wird das Examen durch eine Berufsberatung, bei der die Menschenkenner unter den Rosstäuschern ihre Hebammenkunst zum Wohle von Industrie und Wirtschaft erproben können. Doch nicht nur medizinische Rosskämme striegeln uns in der Jugend. Eine summende Wolke von Prüferfliegen umschwirrt uns vom Kindergarten bis zum Abitur wie die Schmeißfliegen die Pferdeäppel. Mit vier Jahren müssen wir unser erstes Examen ablegen, einen Sprachtest, in Nordrhein-Westfalen ›Delfin 4‹ genannt. Dann geht es nahtlos weiter bis zum Abitur und weiter über den Bachelor zum Master.
All diese öffentlichen Examina empfinden wir nicht als widerwärtig und das Zartgefühl verletzend, dabei sind sie viel schlimmer, weil ihnen das Vorurteil der Notwendigkeit anhaftet. Wir halten sie für sinnvoll, um ›Fehlentwicklungen‹ frühzeitig zu erkennen und zu therapieren. Und wer sucht, der findet: ob Magersucht oder Aufmerksamkeitsdefizit, ob Hyperaktivität oder Depression, ob Angstzustände oder Panikattacken – der Rosskamm findet was und wenn es auch nur ein reizender Name für eine soziale Abweichung von der Norm ist.
Als Kleist 1811 zuerst die totkranke Henriette Vogel und dann sich selbst erschoss, verstieß er zwar gegen eine gesellschaftliche Norm, weshalb beide an Ort und Stelle begraben wurden, aber in seinem ganzen Leben war ihm keine DIN begegnet. Die Industrienorm ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Zu Kleists Zeiten maß man noch mit der eigenen Elle. Heute misst man mit normierten Messgeräten.
Ein alter Grieche hat mal gesagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, heute sind wir, die Menschen, ein Ding des Maßes. Ein Objekt in einem umfassenden Mess-, Normierungs- und Kategorisierungssystem. Wer nicht passt, wird ausgesondert. Und Individuen passen nie. Das ist widerwärtig und das Zartgefühl verletzend. Doch kaum jemand rebelliert dagegen. Die Prüfer erst recht nicht, denen Kleist noch menschliche Regungen zubilligte.
»Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen, von jemandem, dass er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger, seine Seele: sondern ihr eigener Verstand muss hier eine gefährliche Musterung passieren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen können, ohne sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der, eben von der Universität kommende, Jüngling gegeben zu haben, den sie examinierten.«
Die Mitglieder einer Jury in einer Castingshow sind viel zu dumm, um von solchen Selbstzweifel geplagt zu werden. Sie besitzen die Arroganz der erfolgreichen Dummheit, die schlimmer entstellt als jede echte Macht. Und die Rosskämme unseres DIN-Lebens – von der Hebamme bis zum Leichenbeschauer – haben nicht die Phantasie, um dem System der Messungen, Normierungen und Kategorisierungen etwas entgegen zu setzen. Dafür haben sie nicht selten die Chuzpe, den Objekten ihrer Prüfungen einen guten Rat mit auf den weiteren Lebensweg zu geben: Sei du selbst!
Dass die Panikattacken vor diesem Sei-du-selbst zunehmen, ist kein Wunder, denn wo fänden die Prüflinge für diese Aufgabe einen verbindlichen Lösungsschlüssel?