Das Weltgebäude

Verschollene Worte, erster Fund

»Sind wir nicht auch ein Weltgebäude und eines, das wir besser kennen, wenigstens besser kennen sollten, als das Firmament?«1 Diese Notiz von Lichtenberg in Heft L hätte ich gestern Abend fast überlesen, als mir plötzlich aufging, dass ich unter dem literarischen Schutt von etwas mehr als zweihundert Jahren ein lange verschollenes Wort gefunden hatte. Weltgebäude – das sagt und denkt heute niemand mehr. Dabei war das Wort vor zwei Jahrhunderten, als eben dieses Weltgebäude durch die Kritische Philosophie zusammenbrach, noch in aller Munde. Es wurde in der Kirche, im Alltag und in der Literatur immer dann gebraucht – wenn es ernst werden sollte. Dem ersten Blumenstück seines Siebenkäs gab Jean Paul 1796 einen Titel von nie wieder erreichter Abgründigkeit: ›Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei‹. Der Titel ist so erschütternd, dass Jean Paul ihn mit einer Fußnote versieht:

»Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, dass in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären: so würd' ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.«

»Das Ziel dieser Dichtung ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit.« – so beginnt Jean Paul dieses ›erste Blumenstück‹. Was dann folgt, dürfte vor zwei Jahrhunderten nichts für schwache Nerven gewesen sein. Der Dichter imaginiert, als Traum camoufliert, ein Weltenende, wie es seiner Sprache Ehre macht: die Erde bebt, die Lawinen rollen, die Gräber öffnen sich, Christus kommt zum verabredeten Gericht und die Toten rufen ihn an: »Christus! ist kein Gott?« Und Christus antwortet: »Es ist keiner.« Und dann hebt seine Rede vom Weltgebäude herab an:

»Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«

Zweimal taucht das verschollene Wort in diesem apokalyptischen Vomitiv zur Abwehr des maßlos verschlungenen Atheismus auf, bevor das Weltgebäude vom Untergang nur durch das Erwachen aus dem Traum errettet werden kann.

»Da kreischten die Misstöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermesslichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der unermesslichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen. (…)

Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfasste das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern… als ich erwachte.

Und kaum erwacht, weint die Seele des Sehers und Erzählers vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten kann. Der Nihilismus Jean Pauls kennt keine Steigerung – wie seine Schwärmerei. Wer anders als Christus kann das endgültige und unwiderrufliche Urteil, dass kein Gott ist, fällen? Und wer sonst als Jean Paul kann dann noch weiter schwärmen?

Das Weltgebäude liegt in Splittern zu Füßen der Waise Christus – kein Wunder also, wenn mit dem Weltenbau auch das Wort verloren ging. Doch so einfach ist es nicht. Das Wort verstaubte nicht, weil der signifiant unter dem Schutt des signifiés begraben wurde. Die Metapher des Weltgebäudes bezieht sich auf einen geordneten Kosmos, in dessen Mitte Gott thront, und das der Menschheit zur zeitlichen und ewigen Wohnstätte dient, denn der Himmel gehörte stets dazu. Himmel, Erde, Hölle – das Weltgebäude war klar gegliedert und der Mensch befand sich stets im Mittelpunkt. Sein Leben auf der Erde entschied, ob sein künftiges, ewiges Leben im Himmel oder in der Hölle stattfand. Dieses Gedankengebäude des Mittelalters brach im 18. Jahrhundert endgültig in sich zusammen. Doch an seine Stelle trat nicht das ›stürmische Chaos‹, das den vom Tode Erwachenden im Jenseits empfängt – wie Jean Paul deliriert –, sondern das naturwissenschaftliche Bild eines nach Gesetzen geordneten Kosmos, in dem der Mensch jedoch nur noch die Rolle des Beobachters am Rande spielt. Das Weltgebäude, diese anthropozentrische Tempelmetapher, wurde ersetzt durch ein bloß noch mathematisch beschreibbares Raum-Zeit-Kontinuum, das sich in Kants philosophischer Vorwegnahme bereits erahnen lässt. Um die Trümmer eines Weltbildes zu beklagen, hätten wir das Wort vom Weltgebäude noch gebrauchen können, doch es gab keine Trümmer. Die moderne Naturwissenschaft öffnete völlig neue Perspektiven. Für die moderne Kosmologie, für die Relativitätstheorie, für die Quantenphysik brauchen wir ganz andere Metaphern. Das Wort ›Weltgebäude‹ liegt nutzlos herum wie ein Werkzeug für ein längst ausgestorbenes Handwerk.

Das Weltgebäude ist, wie ich oben schrieb, eine anthropozentrische Metapher. Das Weltall wird mit einem Gebäude verglichen, das durch einen Schöpfer nach einem vorgegebenen Plan für die Menschheit als Wohnstätte erschaffen wurde. In ihm spielt sich alles ab. Das neue naturwissenschaftliche Bild vom Weltall kommt ohne Schöpfer und ohne Geschöpfe aus. Der Mensch spielt in ihm keine Rolle. Er ist zu einer peripheren Existenzform unter vermutlich zahllosen anderen herabgesunken. Doch seltsamerweise hat dieses Weltbild keinen Einfluss auf das Leben der Menschen. Wenn das Weltall nichts von ihnen will, wollen sie auch nichts vom ihm. Sie bekümmern sich nur noch um die Befriedigung ihrer nächsten Bedürfnisse.

Etwas mehr Weltgebäude wäre heute nicht verkehrt. Wenn wir uns die Welt, in der wir wohnen, wieder als ein Gebäude vorstellten, in dem sich alles abspielt, dann würden wir vielleicht weniger nachlässig mit ihr umgehen. Denn leider hat die unumstößliche Gewissheit, dass wir nur einen Planeten zum Leben zur Verfügung haben, bekanntlich keinerlei Auswirkung auf unser Verhalten. Wir leben, als hätten wir ein halbes Dutzend in Reserve.

Und so bin ich wieder bei Lichtenberg gelandet. Heute ist jeder sein eigenes Weltgebäude, das er im Fitnesszentrum formt, und in dem er mit seinen Facebook-Freunden, seinen Karriereplänen und seinen Likes und Dislikes wohnt. Und neben dem egozentrischen Weltgebäude kann bloß noch das Nichts existieren.

Zum Schluss müssen wir also feststellen: Auch wenn ein anthropozentrisches Wort in Vergessenheit gerät, heißt das noch lange nicht, dass der Mensch darüber zur Vernunft kommt.


  1. Lichtenberg, Georg Christoph. Sudelbücher, L 305 ↩︎