Beuys und die Piratenpartei
Politik als Soziale Plastik
Joseph Beuys hat mehrmals versucht, durch die Gründung einer Partei eine Soziale Plastik zu gestalten. 1967 gründete er, unterstützt von einigen seiner Studenten in der Düsseldorfer Kunstakademie, als Reaktion auf den Mord an Benno Ohnesorg die Deutsche Studentenpartei. Sie wurde bereits kurze Zeit später in ›FluxusZoneWest‹ umbenannt. 1970 folgte mit der ›Partei für Nichtwähler. Freie Volksabstimmung‹ die nächste Gründung und 1971 gründete er die ›Organisation für direkte Demokratie‹. Fünf Jahre später prägte er das berühmte, heute wieder sehr aktuelle Zitat: »Das System ist kriminell, der Staat zum Feind des Menschen geworden!« Und in einem Akt der Selbstverteidigung tritt er 1976 als Kandidat der »Aktionsgemeinschaft unabhängiger Demokraten (AUD)« in seinem Wahlkreis in Düsseldorf-Oberkassel zur Bundestagswahl an. 1979 war er Direktkandidat der NRW-Grünen bei der ersten Wahl zum Europäischen Parlament und 1980 nahm er am Gründungsparteitag der Grünen teil. Sein Verhältnis zu den Grünen entwickelte sich jedoch problematisch. Sie bremsten ihn aus und stellten ihn 1983 schließlich kalt, indem sie ihm einen aussichtsreichen Listenplatz für die Bundestagswahl verweigerten. An seiner letzten Parteigründung, der Gründung der Piratenpartei, war Joseph Beuys als toter Hase beteiligt.
Wärme- und Kälteprozesse
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert war die Zeit endlich wieder reif für eine Soziale Plastik in Form einer Partei. Die Piratenpartei war der kollektive Versuch, einen neuen Wärmepol in der Gesellschaft zu verankern, um die seit Jahrzehnten erkalteten Strukturen zu verflüssigen und damit formbar zu machen. Oder, in der Sprache der Internetgeneration ausgedrückt, man wollte dem Land ein neues Betriebssystem verpassen. Mit Liquid Democracy entstand eine Software, die diesen Prozess vorantreiben sollte. Die seit dem Kriegsende aufgebauten und völlig versteinerten, demokratischen Strukturen sollten durch plebiszitäre Wärme verflüssigt werden. Wie jeder Verflüssigungsprozess so brachte auch dieser das Chaos ins Spiel, was zu unvorhergesehenen Effekten, wie zum Beispiel der Kettendelegation in Liquid Feedback, führte, aber auch zu einer großen Dynamik, die sich in dem schnellen Wachstum der Partei zeigte und in dem rasanten Anwachsen politischer Positionen im Programm. Die Piraten versuchten das Chaotische des Wärmeprozesses durch Kaskaden von Satzungsanträgen in eine Form zu zwingen. Doch der Versuch misslang. Die Piratenpartei erkaltete nach spektakulären Erfolgen zu einer Fettecke im Politikbetrieb.
Die Wärmeprozesse der Sozialen Plastik ›Piratenpartei‹ setzten aber innerhalb weniger Jahre immense kreative Kräfte frei, die visionäre Ideen zu einer potenziell mehrheitsfähigen Programmatik transformierten: der fahrscheinlose ÖPNV, das bedingungslose Grundeinkommen, die fließende Schullaufbahn und vieles mehr. Erstmals wurden Funken, die in der Gesellschaft bereits lange, aber folgenlos glommen zu einem großen Feuer angefacht. Die vereisten Strukturen der bundesdeutschen Wirklichkeit und die soziale Kälte des Neoliberalismus wurden in den Händen der Piratenpartei zu weichem Wachs, das zu konkreten Alternativen geformt werden konnte. Die Piratenpartei nahm Impulse aus bis dato marginalisierten Kreisen der Gesellschaft auf und formte mit Hilfe der plötzlich frei werdenden Bewegungswärme im politischen Raum eine unübersehbare Plastik, die großes Aufsehen erregte. Erstmals seit 1968 wurde beispielsweise mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen ein sozialpolitischer Paradigmenwechsel hin zu mehr sozialer Wärme formuliert. Alle anderen Prozesse seit den Studentenunruhen von 1968 waren Kälteprozesse, die in der Schröderschen Eiszeit und ihrer Hartz-IV-Gesetze und dem Raubzug der Banken ihren vorläufigen Höhepunkt fanden.
LMVBlume und transsexuelle Meerschweinchen
Wie Beuys, der unter anderem mit Filz und Fett ein eigenständiges symbolisches Zeichen- und Verweissystem entwickelte, arbeitete auch die Piratenpartei mit einem eigenwilligen Zeichenkörper, zu dessen Bestandteilen eine nerdige Zahlensymbolik, Abkürzungen, nautische Begriffe und andere Wort- und Begriffsschöpfungen gehörten. Im Unterschied zu Beuys ist dieses idiosynkratische Zeichensystem der Piratenpartei das Ergebnis eines kollektiven Prozesses, während es bei Beuys auf künstlerisch-persönlicher Ebene bleibt und damit insgesamt hermetischer ist.
Da die Piratenpartei eine echte Soziale Plastik ist, fehlt ihr das deklarative Etikett des Künstlers, das sie als Kunstwerk ausweist, und das den Aktionen von Beuys ganz selbstverständlich anhaftete. Die Skulptur »7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung«, die Beuys zur documenta 7 im Jahr 1982 initiierte, wurde als ökopolitische Aktionskunst wahrgenommen. Selbst die 100-tägige Diskussion, die Beuys mit dem Publikum auf der documenta 5 im Jahr 1972 in seinem Büro der ›Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung‹ führte, wird als politisch fundierte Kunstaktion verstanden. Der erweiterte Kunstbegriff thematisiert zwar die Problematik des klassischen Werkbegriffs, Beuys selbst aber nutzt ihn Zeit seines Lebens. Die Piratenpartei wurde dagegen in der Öffentlichkeit bisher nur als politische Bewegung interpretiert und nicht als Versuch, eine Soziale Plastik zu realisieren. Dabei liegt dieser Gedanke nahe, wenn man sich die kreativen Aktionen der Piraten vor Augen führt. Hierzu zählen nicht nur die frischen und unverkrampften Wahlkampfmaterialien, sondern auch konkrete Objektivierungen politischer Inhalte wie zum Beispiel das Liederbuch »Kinder wollen singen« für Kitas und der Free-Music-Sampler der Musikpiraten oder die Postwurfaktion mit den geöffneten Briefen zur Veranschaulichung der NSA-Überwachung.
Die Interpretation der Piratenpartei als Soziale Plastik hilft einerseits, den erweiterten Kunstbegriff und die Soziale Plastik zu verstehen. Andererseits eröffnet diese Interpretation neue Wege bei der Aufarbeitung von Fehlern und Erfolgen der Piratenpartei.
Gelungene oder misslungene Plastik?
Erfolg in der Politik wird mit Hilfe von Umfragen oder anhand von Wählerstimmen gemessen. Dieses Bewertungmuster entspräche auf die Kunst angewendet dem Kaufpreis einer Skulptur, mit dem ihr Handelswert bestimmt wird. Die künstlerische Bewertung einer Skulptur orientiert sich jedoch an ganz anderen Kategorien. Daher sind Wählerstimmen auch nicht der richtige Maßstab, um eine Soziale Plastik zu beurteilen. Schließlich beurteilt man den künstlerischen Wert einer traditionellen Skulptur nicht nach dem Preis, den sie auf einer Auktion erzielt. Kriterien wie innere Produktivität, Wandlungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Beharrungsvermögen erscheinen sehr viel geeigneter zu sein, um eine Soziale Plastik zu beurteilen. Eine gelungene Soziale Plastik wäre demnach produktiv, wandlungs- und reaktionsfähig, gleichzeitig aber auch beharrlich in ihren kreativen Prozessen. Die Wärmeprozesse müssen jedoch stärker als die Kälteprozesse der Verkrustung und Desintegration sein. Sie dürfen aber auch nicht zur völligen Verflüssigung der Verhältnisse, zum Chaos, führen. Um es mit einem Bild aus dem Beuys’schen Verweisungssystem zu beschreiben: die Soziale Plastik ähnelt einem Bienenstock, in dem ständig durch Wärmeprozesse aufbauende Strukturarbeit geleistet wird. Leider ist es nur zu offensichtlich, dass die Piratenpartei in dieser Hinsicht in einer sehr kritischen Phase ist. Im Moment scheinen alle Prozesse abzukühlen, nachdem zuvor alles unkontrolliert hochgekocht war. Die Soziale Plastik ist per se niemals für die Ewigkeit gemacht, sie ist Schöpfung in Permanenz und daher auch niemals fertig.
Über die Gründe der Abkühlung und Desintegration kann man trefflich spekulieren. Beuys sagte einmal: »Diese modernste Kunstdisziplin Soziale Plastik, Soziale Architektur wird erst dann in vollkommener Weise in Erscheinung treten, wenn der letzte Mensch auf dieser Erde zu einem Mitgestalter, einem Plastiker oder Architekten am sozialen Organismus geworden ist.«1 Dieses Zitat verlegt die Soziale Plastik in eine utopische Ferne und untergräbt im Grunde die Interpretation der Piratenpartei als Soziale Plastik, erscheint es doch viel zu eng gefasst, eine Partei als Soziale Plastik zu deklarieren, wenn dazu laut Beuys die gesamte Weltbevölkerung als Mitgestalter erforderlich sind. Doch von der Problematik der Werkbestimmung einmal abgesehen, stellt dieses Zitat auch hohe Ansprüche an jeden einzelnen Plastiker.
Um einen sozialen Organismus als Kunstwerk zu erschaffen, sind nicht bloß Menschen notwendig, sondern Mitgestalter, Plastiker, Architekten gefordert, also Menschen, die sich ihrer Verantwortung als Mitschöpfer der Sozialen Plastik bewusst geworden sind. Verantwortlichkeit, Schöpfungswille und Bewusstsein bilden einen komplexen Zusammenhang, den ein Mensch nicht per se zu nutzen versteht. Das kann, so Beuys nur von dem freien Menschen geleistet werden, der – auch darüber war sich Beuys im Klaren, durch Bildung entsteht. Beuys steht hier vollständig in der Tradition des Bildungsbürgertums. Er hat deshalb auch – wie die Piratenpartei – auf die Bildung so großen Wert gelegt. Ihr, der Bildung, fällt die Aufgabe zu, den freien Menschen auszuprägen, der allein zum Mitschöpfer werden kann.
In der Piratenpartei fanden sich zeitweise viele freie Menschen zusammen, die gemeinsam schöpferisch tätig wurden. Doch das war nicht bei allen und nicht immer der Fall. Die kreativen Wärmeprozesse wurden durch unablässigen Streit, eitle Selbstdarstellung und verantwortungslose Sabotage nach und nach erstickt. Die Soziale Plastik ›Piratenpartei‹ scheiterte vorerst daran, dass sich zu viele Plastiker und Mitschöpfer unverantwortlich verhielten. Trolle sind Kunstbanausen.
Es geschahen immer wieder eklatante Gestaltungsfehler. Anstatt die schöpferischen Prozesse zu fördern, fing man an, die Plastik zu vermarkten – also von außen an sie heranzutreten und sie zu verpacken. Statt die Soziale Plastik nach ihren eigenen, inneren Gesetzen wachsen zu lassen, zwängte man sie in den engen Rahmen des Politikbetriebs und unterwarf sie der Logik der medialen Öffentlichkeit. Statt wie Bienen mit Hilfe einer einfachen Wabenstruktur von innen nach außen zu bauen und das Crewprinzip zur organischen Universalstruktur zu machen, übernahm man allzu schnell tektonische Baupläne von außen, die nicht zu den agilen Prozessen der Piraten passten. Und an anderer Stelle wiederum griff man zu Ad-hoc-Lösungen wie den Beauftragungen, die zu statischem Flickwerk auf allen Ebenen führte.
Die Kunst der Politik
Die Soziale Plastik ›Piratenpartei‹ gelang und misslang, obwohl und weil sich ihre Schöpfer nicht bewusst waren, eine Soziale Plastik zu schaffen. Wer die Gesellschaft verändern will, muss sich selbst verändern, denn Veränderung braucht Kristallisatonskerne, um die herum sich gesellschaftliche Strukturen neu formieren können. Das Crewprinzip und Liquid Feedback waren Versuche, solche Strukturen aufzubauen und in der Praxis zu testen. Beide Versuche wurde viel zu früh abgebrochen. Dennoch muss man die ›Piratenpartei‹ als eine zeitweise sehr gelungene Soziale Plastik bezeichnen, die politische Randthemen und politische Alternativen zum herrschenden Neoliberalismus programmatisch ausformulierte und vor allem Menschen mobilisierte, sozial plastisch tätig zu werden. Letzteres ist ein unschätzbarer Erfolg, der Nachwirkungen haben wird.
Literatur
Beuys, Joseph: Ich durchsuche Feldcharakter. In: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys. 3. erweiterte und ergänzte Auflage. Achberg 1984.
Fußnoten
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Beuys, Joseph: Ich durchsuche Feldcharakter. In: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys. 3. erweiterte und ergänzte Auflage. Achberg 1984. ↩︎