Bei noch jungfräulicher Vernunft

Die Lichtenberg-Variationen sind kleine essayistische Improvisationen über ein Thema, das Lichtenberg in seinen Sudelbüchern vorgegeben hat. In dieser Variation geht es um die Frage, was es bedeutet, ›nicht unter seiner Zeit zu sein‹.

Es war kein geringerer als der große Georg Christoph Lichtenberg, der in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts in seinem Sudelbuch diesen lakonischen Satz notierte: »Bemühe dich, nicht unter deiner Zeit zu sein.« (D 474) Leicht gesagt, möchte man ihm antworten. Denn es wird immer schwieriger, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. War vor wenigen Jahren das iPhone der letzte Schrei und rief bis neulich noch alle Welt begierig nach der Google-Brille, so ist heute das autonome Auto die Sau, die durchs Dorf getrieben wird. Vorgestern erfuhr man noch aus der Zeitung, was in der Welt so alles falsch lief, gestern zappte man dafür durchs TV-Programm und heute scrollt man durch seinen Stream im Social Web. Vor 30 Jahren waren die Grünen mit ihren Flugblättern aus Recyclingpapier das enfant terrible der deutschen Politik, vor fünf Jahren waren es die Piraten mit ihrem Demokratie-Upgrade Liquid Feedback. Heute krakeelen bloß noch verwahrloste Spießbürger durch die Straßen. Wer nicht höllisch aufpasst, sinkt ganz schnell unter seine Zeit.

Seiner Zeit hinterher ist man vor allem in den Naturwissenschaften. Was ein Student heute im ersten Semester lernt, ist bereits hoffnungslos veraltet, wenn er sein Studium abschließt. Und die meisten von uns können den Erkenntnishorizont der Teilchenphysiker und Kosmologen nicht einmal erahnen, geschweige denn jemals an ihn heranreichen.

Das war vermutlich zu Lichtenbergs Zeiten nicht anders. Und so darf jeder Lichtenbergs Forderung in seinem Sinne interpretieren. Wer gerne tratscht, sollte es wenigstens zeitgemäß mit Twitter tun. Wer wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, muss sich wohl oder übel mit dem Higgs-Boson vertraut machen, wenn er nicht unter seine Zeit sinken will.

Als Wissenschaftler war Lichtenberg mit Sicherheit auf der Höhe seiner Zeit. Er war Professor für Physik, Mathematik und Astronomie an der Universität Göttingen, wo er als Experimentalphysiker weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt wurde. Er ließ gasgefüllte Schweinsblasen aufsteigen, demonstrierte mit Hilfe von Drachen die Elektrizität eines Gewitters – ganz so wie sein Zeitgenosse Benjamin Franklin – und führte in Göttingen die ersten Blitzableiter ein. Er korrespondierte mit vielen Gelehrten seiner Zeit und unternahm zwei längere Reisen nach England. Dort begegnete er nicht nur dem britischen König, sondern auch dem Erfinder James Watt, dem Chemiker Joseph Priestley und Teilnehmern von James Cooks zweiter Weltumsegelung.

Als Mensch fiel Lichtenberg dagegen ein wenig aus seiner Zeit heraus. So verliebte sich der knapp 40-jährige in die erst 15 Jahre alte Maria Dorothea Stechardt, mit der er zwei Jahre lang »ohne priesterliche Einsegnung«1 zusammenlebte. Das Verhältnis hätte angedauert, wäre Maria Dorothea nicht mit 17 Jahren vermutlich an einer Kopfrose verstorben. Bereits ein knappes Jahr später verliebte Lichtenberg sich erneut. Diesmal in seine Haushälterin, die ebenfalls erst 15-jährige Margarethe Elisabeth Kellner. Erst Jahre später ließ er die streng geheim gehaltene Beziehung durch eine Ehe legalisieren, um den gemeinsamen Kindern das Erbe zu sichern.

Der Boulevard würde Lichtenberg heute vermutlich als Kinderschänder ausschreien. Seine rachitische Gestalt, sein Buckel sowie der Altersunterschied von 25 Jahren würden den Lesern des 21. Jahrhunderts als Beweis für seine Perversität vollauf genügen. Dass Lichtenberg heute, als Physiker auf der Höhe der Zeit, am CERN die letzten Geheimnisse der Materie erforschen würde, wäre für die Schreiberlinge bloß eine zusätzliche Motivation, ihrem Affen Zucker zu geben. »Lässt sexgeiler Wissenschaftler die Welt in einem Schwarzen Loch verschwinden?« – so klängen wohl die Überschriften der Boulevardpresse, lebte Professor Lichtenberg heute mit einer Minderjährigen zusammenleben.

Würde Lichtenberg durch ein vom CERN versehentlich erzeugtes Wurmloch in unsere Zeit versetzt, wäre er von dem über drei Milliarden Euro teuren Large Hadron Collider des CERN sicher ebenso fasziniert, wie die junge Maria Dorothea von dem 1500 Taler teuren physikalischen Apparat in Lichtenbergs Wohnung, den sie, will man Lichtenberg glauben, hingebungsvoll zusammen mit seinen Halsbinden in Ordnung hielt.2 Ob Lichtenberg seine Geliebte in der Physik des 18. Jahrhunderts unterrichtete, wissen wir nicht. Aber die Vorstellung, dass sich der Eintrag »Bei noch jungfräulicher Vernunft.« in Sudelbuch D (D 375) auf Maria Dorothea, dieses »Muster von Schönheit und Sanfftmuth«3 bezieht, ist verführerisch.

Die Vernunft hatte man zu Lichtenbergs Zeiten noch nicht den Sachverständigen geopfert. Sie war – vergöttert oder verteufelt – damals in aller Munde. Lichtenberg war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Aufklärer, was damals wie heute nicht immer gut zusammen passte. Frömmelei und Aberglauben waren ihm zuwider. Als Zeitreisender im Wurmloch des CERN hätte er sicher auch heute noch genügend Gründe, sich angewidert abzuwenden. Ob Maya-Kalender, Homöopathie oder Kreationismus – der Dummheit sind 270 Jahre nach Lichtenbergs Geburt keine Grenzen gesetzt. Ob den buckligen Aufklärer diese traurige Tatsache überraschen würde, bezweifle ich. Vermutlich fiele ihm so mancher Streich ein, um Betrug und Dummheit in jeder Verkleidung bloßzustellen.

Um Lavaters Physiognomie und die seiner Epigonen lächerlich zu machen, schrieb er das »Fragment von Schwänzen«, ein satirisches Physiognomie-Lehrbuch über Schweineschwänze und Haarzöpfe. Aus Göttingen vertrieb er einmal den Zauberkünstler Philadelphus Philadelphia, indem er Anschlagzettel in dessen Namen drucken ließ, auf denen er in satirischer Manier die haarsträubendsten Kunststücke ankündigte.4 Dem armen Philadelphus blieb nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge und sehr überstürzt wieder abzureisen.

Heute sind die Betrüger sehr viel dreister und hartnäckiger geworden. Satire schlägt niemanden mehr in die Flucht. Wie eh und je ziehen Legionen von Betrügern dem Publikum ohne jeden Skrupel das Geld aus der Tasche. Nur benutzen sie heute dazu nicht mehr wie Philadelphus verblüffende Zaubertricks, sondern raffinierte Finanzanlagen. Das Design hat sich verändert, die Methoden sind gleich geblieben. Wir lesen heute zwar E-Books, aber nach wie vor gilt Lichtenbergs berühmter Aphorismus: »Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?« Natürlich müsste Lichtenberg, der Zeitreisende, seinen eigenen Kopf erst einmal darauf einstimmen, mit einem Nachfolger des von ihm herausgegebenen Physik-Lehrbuches »Anfangsgründe der Naturlehre« zusammenzustoßen. Doch sehr bald klängen bloß die Bücher hohl, wenn sie mit Lichtenbergs Kopf zusammenstießen. Überhaupt wäre Lichtenberg von uns enttäuscht. Unsere Experimentalphysiker sind zwar in der Lage, physikalische Bedingungen nachzubilden, die 10-11 Sekunden nach dem Urknall geherrscht haben, menschenwürdige Lebensbedingungen für alle Bewohner dieses Planeten gibt es jedoch auch im 21. Jahrhundert ausschließlich in Utopia.

Die kritische Vernunft der Aufklärer, die so manchem Betrüger und Dunkelmann das Handwerk legte, ist längst zur zynischen Vernunft verkommen und verhilft nun überall dem Neoliberalismus zum Sieg. Und wir hohlen Köpfe füttern die Betrüger, anstatt sie geteert und gefedert zum Teufel zu jagen.

Aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit führt kein Weg heraus. Wir sind schlicht und einfach nicht bei jungfräulicher Vernunft.

Literatur

Lichtenberg, Georg Christoph: Avertissement - Anschlag Zettel im Namen von Philadelphia. 1777. Internet: http://www.lichtenberg-gesellschaft.de/pdf/l_wirk_satir_anschlag_original.pdf. Zuletzt geprüft am: 17.2.2015.

———: Schriften und Briefe / Georg Christoph Lichtenberg. [Hrsg. von Wolfgang Promies]. IV Bd.6. Aufl. Darmstadt 1998.

Fußnoten


  1. Brief an Gottfried Hieronymus Amelung, in Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe / Georg Christoph Lichtenberg. [Hrsg. von Wolfgang Promies]. IV Bd.6. Aufl. Darmstadt 1998. S. 488. ↩︎

  2. Brief an Gottfried Hieronymus Amelung, in ebd., S. 488. ↩︎

  3. Brief an Gottfried Hieronymus Amelung, in ebd., S. 488. ↩︎

  4. Lichtenberg, Georg Christoph: Avertissement - Anschlag Zettel im Namen von Philadelphia. 1777. Internet: http://www.lichtenberg-gesellschaft.de/pdf/l_wirk_satir_anschlag_original.pdf. Zuletzt geprüft am: 17.2.2015. ↩︎