Tango unplugged

Beim Soundcheck war noch alles ok. Doch dann verabschiedete sich, zwanzig Minuten bevor das Konzert beginnen sollte, die Verstärker-Endstufe. Ersatz war keiner zu finden und so kamen wir beim Konzert des Sexteto Visceral im Kontakthof in Wuppertal in den Genuss von Tango Unplugged.

Beim Soundcheck war noch alles ok. Doch dann verabschiedete sich, zwanzig Minuten bevor das Konzert beginnen sollte, die Verstärker-Endstufe. Ersatz war keiner zu finden und so kamen wir beim Konzert des Sexteto Visceral im Kontakthof in Wuppertal in den Genuss von Tango Unplugged.

Vier Musiker, Bass, Bandoneon, Violine, Cello
Sexteto Visceral (Foto: Heinke Fiedler)

Bandoneon, Violine, Cello und Bass konnten problemlos auf die elektronische Verstärkung verzichten, da der Raum im Kontakthof nicht sehr groß ist. Doch für Gitarre und E-Piano musste eine Notlösung gefunden werden. Die Techniker entschlossen sich schließlich nach viel Hin- und Hergerenne und stark gerunzelten Stirnen, diese beiden Instrumenten an Monitorlautsprecher anzuschließen, über die normalerweise die Musiker auf der Bühne ihre eigene Musik hören. Wer es nicht kennt, Wikipedia weiß Bescheid.

Ob es an der fehlenden Verstärker-Endstufe lag oder ob Monitorlautsprecher generell etwas leise sind, weiß ich nicht, aber sowohl die Gitarre als auch das Piano waren für mein Gefühl durchgehend zu leise. Die übrigen Instrumente profitierten von ihrem natürlichen Klangkörper und überlagerten Klavier und Gitarre.

Man konnte sich gut vorstellen, wie ein Orquesta Tipica, bei dem alle Positionen mehrfach besetzt sind, vor der Erfindung des elektrischen Verstärkers geklungen haben muss. Drei oder vier Bandoneons und eine entsprechend besetzte Streichergruppe waren keine Seltenheit. Für die großen Karnevalsveranstaltungen in Buenos Aires wurden sogar Orchester mit mehreren Dutzend Musikern zusammengestellt. Verstärken hieß früher einfach: mehr Musiker und mehr Instrumente.

Das Sexteto Visceral mit seinem Sänger Hernán Fernández, dessen kraftvolle Stimme sogar in den leisen Passagen gut hörbar blieb, spielte vor allem Stücke von ihrer letzten CD ›Champagne Tango‹. Auf dieser CD haben sie klassische Tangos im Stil bekannter Orchester aus der Goldenen Epoche des Tangos in den 30er und 40er Jahren arrangiert. Wir hörten also Tangos unter anderem im Stil von Aníbal Troilo, Carlos di Sarli, Osvaldo Pugliese und Juan D’Arienzo.

Das ist ein überaus mutiges Unterfangen, denn Tangotänzer und Tangoliebhaber kennen die Stücke dieser Orchester in- und auswendig. Erfahrene Milongueros können nach wenigen Takten das Orchester erkennen. Auf der ganzen Welt tanzt man den Tango überwiegend zur Musik dieser klassischen Orchester, weil es keine bessere Tanzmusik gibt. Die Orchester in Buneos Aires haben damals im Grund ausschließlich für Tänzer gespielt, und das oft jeden Abend. Die Musiker waren ungeheuer erfahren, die meisten kann man als Virtuosen auf ihrem Instrument bezeichnen. Sie wussten ganz genau, wie man spielen muss, damit man zu ihrer Musik tanzen konnte. Die klassischen Tango-Orchester waren darin unvergleichlich gut. Wenn also Musiker von heute es wagen, im Stil der großen Orchester der Goldenen Epoche zu spielen, dann müssen sie wirklich sehr gut sein.

Und sie waren gut. Trotz aller Widrigkeiten zeigte das Sexteto Visceral von Anfang an eine große Spielfreude. Sie wurden ihrem Namen, der so viel wie ›ungestüm‹ bedeutet, gerecht. Für uns Zuschauer war es durch die fehlende Verstärkung ein sehr intimes Konzert. Wir bekamen mit, wie die Musiker während des Spielens miteinander durch Gesten und kurze Rufe kommunizierten und sich gegenseitig anfeuerten. Das machen andere Orchester natürlich auch. Aber mir ist dieses Aufeinander-Hören und Miteinander-Spielen diesmal besonders stark aufgefallen. Kurz und gut es wurde trotz der kaputten Endstufe ein toller Abend.

Leider blieb es beim Konzert und wir konnten nicht ausprobieren, ob man zu der Musik des jungen argentinischen Orchesters auch tanzen kann.

Wer nun neugierig geworden ist: es gibt einen Mitschnitt von dem Konzert.

Am Tag danach habe ich mir die Stücke auf der CD, die ich mir gekauft habe, noch einmal kritisch angehört. Während des Konzerts war ich viel zu stark involviert, um festzustellen, ob ein Stück nun wirklich im Stil von Troilo oder von D’Arienzo gespielt wurde. Irgendwie ist man ja auch als Zuschauer Teil der Aufführung, man spielt innerlich mit, wenn man die Stücke kennt.

Und in der Tat, man hört auf der CD die Vorbilder sehr gut heraus und – was noch wichtiger ist, man ist nicht verstimmt. Das sehr viel machtvollere Klavier gibt den Stücken auch noch einmal mehr Tiefe und Charakter. Jedenfalls kann man sich durchaus vorstellen, wie die großen Orchester damals geklungen haben.

Denn leider hören wir die Musik der Goldenen Epoche heute mit klanglichen Einbußen. Die sind natürlich nicht so stark wie bei den ganz frühen Tangos, die noch rein akustisch über einen Trichter auf Tonwalzen aufgenommen wurden. Die Orchester versammelten sich dafür tatsächlich vor einem riesigen Trichter, in den hinein sie spielen mussten. Die Tangos der Goldenen Epoche wurden aber bereits mit einem elektrischen Mikrophon aufgenommen. Die Betonung liegt hier auf einem Mikro. Die Instrumente wurde so um das zentrale Mikro gruppiert, das ein ausgewogener Klang entstand. Der Prozess der Plattenproduktion war extrem aufwändig, wie dieser Film zeigt.

Im Grunde hat man damals schon eine hervorragende Qualität produziert. Nur leider sind uns viele Stücke nur als Abtastungen von benutzten Schallplatten überliefert, weil die Master, aus denen die Plattenfirmen die Schallplatten gepresst haben, verloren gegangen sind. Deshalb gehört das Knistern der alten Platten zum Tango dazu. Wer also hören will, wie Troilo, Di Sarli, Pugliese und D’Arienzo heute ohne Knistern klingen könnten, der sollte sich die CD ›Champagne Tango‹ von Sexteto Visceral kaufen.

Die CD ›Champagne Tango‹ von Sexteto Visceral

Inhalt

  • Chiqúe – in the style of Aníbal Troilo
  • Pa’ que bailen los muchachos – in the style of Aníbal Troilo
  • Champagne Tango – in the style of Carlos Di Sarli
  • Toda mi vida – in the style of Aníbal Troilo
  • Desde el Alma – in the style of Osvaldo Pugliese
  • A Evaristo Carriego – in the style of Osvaldo Pugliese
  • La puñalada – in the style of Juan D’arienzo
  • El puntazo – in the style of Juan D’arienzo
  • Flor de lino – in the style of Aníbal Troilo
  • Canaro en París – in the style of Sexteto Mayor
  • Taquito militar – in the style of Quinteto Real
  • Mal de amores – in the style of Quinteto Real

Vorhören kann man auf Soundcloud

Besetzung

Francisco Ferrero Piano
Nicolás Maceratesi Bandoneón
Mauro Paternoster Guitar
Alejandro Abbonizio Bass
Cecilia Barrales Cello
Luis Alberto Simó Violin
Hernán Fernández Voice

Aufnahme von 2014
Studio La Urbana, Buenos Aires, Argentina
Preis: € 20.00
Bestellung zurzeit leider nur per E-Mail via: order@tanguentro.com
Später auch im Shop von www.tanguentro.com