Britischer Humor
Dummheit ist keine rein britische Eigenschaft – die Steilheit dieser These ist mir durchaus bewusst. Ich wage es trotzdem, in dieser ersten Sudelei nach dem Brexit den Beweis dafür anzutreten.
Die EU hat den Briten 70 Jahre Frieden und Wohlstand gebracht. Und das ist offenbar Gift für den gesunden Menschenverstand. Während Syrer, die in ihrer vom Bürgerkrieg verheerten Heimat die Nachteile explodierender Splitterbomben und enthemmter Glaubenskrieger in ihren Lebensentscheidungen berücksichtigen und gegen die Vorteile eines provisorischen Flüchtlingscamps in der EU sorgfältig abwägen, laufen die Briten Gestalten hinterher, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie von einer außerirdischen Macht ins Vereinigte Königreich eingeschleust wurden, um es von innen zu zerstören. Und diesen Leuten sind die Briten nun auf den Leim gegangen.
Angesichts dieser Dummheit sind selbst der Trump-Clon Boris Johnson und der Reptiloid Nigel Farage fassungslos. Farage wurde durch die epischen Ausmaße der britischen Dummheit so verwirrt, dass er schon fünf Minuten, nachdem sich der Sieg des Brexit-Lagers abzeichnete, Klartext reden musste. Dass die Gelder, die Großbritannien an die EU zahlen müsse, nun in das Gesundheitssystem fleißen werden, habe er nie versprochen, meinte er im Brustton biederster Ehrlichkeit. Die Briten müssen den Werbeschriftzug auf seinen Bussen gründlich missverstanden haben. Und damit hat er Recht. Denn alles, was dieser Slogan besagt ist Folgendes: Bevor ich die 350 Millionen Pfund weiterhin der EU in den Rachen werfe, stecke ich sie lieber in den NHS, den nationalen Gesundheitsdienst. Der NHS ist hier bloß eine Metapher für jede Art von Mülleimer. Denn es gibt nur eins, das britische Konservative noch mehr hassen als die EU und das sind Menschen, die sich keine private Krankenversicherung leisten können.
Aber nun komme ich zu meinem Beweis. Populismus ist kein rein britisches Problem. Und da es keinen Populismus ohne dummes Volk gibt, ist Dummheit ergo keine rein britische Eigenart. Allerdings hat sie dort epochale Ausmaße erreicht, wie uns Google mitteilt. Bei der Suchmaschine explodierten nämlich nach dem Referendum Fragen, die man sich als vernunftbegabter Mensch vor einer so weitreichenden Entscheidung stellt: Was bedeutet der Brexit für Großbritannien? Und noch fundamentaler: Was ist die EU? Ich kann mir gut vorstellen, dass Wähler von AfD, Front National oder FPÖ nach einem Erfolg ihrer Partei bei Google nachfragen: Wer war Hitler? Und wer in diesem Sudelbuch einmal unter dem Stichwort Wahlkampf nachschlägt, findet Belege aus den letzten 18 Jahren, dass nicht nur der Brite in einer Lottoannahmestelle mehr Sorgfalt an den Tag legt als in einer Wahlkabine. Auch ohne Einstein zitieren zu müssen, der von der Grenzenlosigkeit der menschlichen Dummheit überzeugt war, behaupte ich, dass Dummheit keine Grenzen kennt und alle Mauern überwindet, weil sie immer schon überall zu Hause ist.
Es ist übrigens keineswegs unumstritten, dass die Briten an rezidiver Dummheit im Endstadium leiden. Keine Geringere als die schwedische Botschafterin in Großbritannien, Nicola Clase, die die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange beantragt hat, um ihn postwendend an die Lagerverwaltung der USA weiterzureichen, erkennt im Verhalten der Briten in erster Linie kindischen Trotz. »It’s like when a child desperately wants to pee in his pants and does it,« sagte sie einem Journalisten der Times. »At first there’s a feeling of relief and for a few moments it’s nice and warm. Then he’s just cold and wet.« Dieser Trotz tritt bei Kindern immer dann auf, wenn sie im Supermarkt nicht ihren Willen bekommen und erkennen müssen, dass die süßen Berge um sie herum nicht ausschließlich zur Befriedigung ihrer Zunge von guten Geistern aufgeschichtet wurden. Dieser Trotz ist eine vorübergehende, altersbedingte Adaptionsschwierigkeit, die auch hoch intelligente Kinder befällt. Während die Trotzphase bei Kindern abklingt, sobald sie in die Schule kommen, braucht ein Land, das immer noch glaubt, die Weltmeere und ein globales Empire zu beherrschen, etwas länger, um zu verstehen, dass man die Süßigkeiten aus den ehemaligen Kolonien nicht mehr umsonst bekommt, sondern teuer bezahlen muss. Und gerade als man sich damit abgefunden hat, kommen dank der Freizügigkeit in der EU Menschen ins Vereinigte Königreich, die niemals Untertanen der Krone waren und die die Erhabenheit des Commonwealth folglich nicht einmal im Ansatz ermessen können. Amerikaner, Inder, Kenianer, Tasmanen – ob arm oder reich – sie alle sind fester Bestandteil des lieb gewonnenen, viktorianischen Mobiliars – aber Polen? Das sind richtige Fremde! Mit denen hat man rein gar nichts gemein! Man kann sich im polnisch geprägten Ruhrgebiet gar nicht vorstellen, wie fremd ein Pole in Großbritannien wirkt. Ein Schwarzafrikaner in einer sächsischen Kleinstadt fällt kaum weniger auf. Wenn der kindliche Narzissmus dermaßen in die Schranken gewiesen wird, ist es kein Wunder, wenn man im Supermarkt vor lauter Wut entschlossen in die kurzen Hosen pisst. Das Problem ist nur, dass ganz Europa in den gleichen Hosen steckt.
Das ist ein unangenehmes Gefühl. Europa möchte deshalb die nassen Hosen so schnell wie möglich los werden. Die Briten wurden deshalb aufgefordert, die offizielle Austrittserklärung zügig abzugeben. Doch Premier Cameron will diesen Schritt aus nachvollziehbaren Gründen seinem Nachfolger überlassen. Und plötzlich gehen alle möglichen Nachfolger in Deckung. Da steht der Bub also mit nassen Hosen da und traut sich nicht, diese vor der Supermarktkasse, während alle gucken, auszuziehen.
Und so wird der Brexit zu einer traumatischen Erfahrung. Das britische Selbstverständnis der letzten Jahrzehnte beruhte auf der Gewissheit, jederzeit in die Hosen pissen zu können, sobald die EU eine Extrawurst verweigerte. Das Drohen mit der öffentlichen Selbsterleichterung bildete den Grundkonsens der politischen Klasse. Die EU war der ideale Sündenbock für alles, was man selbst verbockte. Und zeugt es nicht von großer Humanität, eine anonyme Institution im fernen Brüssel zum Bösewicht zu machen, sodass Juden, Moslems und andere beliebte Sündenböcke in Ruhe und Frieden leben können?
Niemand hatte die Absicht, die EU zu verlassen! Alle brauchten sie als Feindbild, um von hausgemachten Problemen ablenken zu können. Damit ist nun Schluss. Da Satire zwar alles darf, aber nichts kann, bedurfte es wohl eines echten Referendums, um die Verlogenheit der politischen Klasse und die Dummheit des Wahlvolks ans Tageslicht zu bringen. Wenn das kein britischer Humor ist! Selbst dem dümmsten Briten dürfte nun ein Licht aufgehen, in dem die Politiker, denen er bisher ins neoliberale Elend nachgetrottet ist, als das erscheinen, was sie sind. – Als kleine Hosenpisser.