Asynchronität
Seit drei Wochen bin ich mit meiner Frau in Buenos Aires und genieße den Sommer, womit ich bereits bei der ersten Asynchronität wäre. Wenn in Europa Winter ist, steigt das Thermometer in Buenos Aires nicht selten auf über 30° C und die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel. Da die Stadt am Rio de la Plata liegt, der so breit wie die Ostsee ist, weht meistens ein angenehmer Wind in der Stadt.
Ab und zu sahen wir noch einen Weihnachtsbaum in einer Kneipe stehen, was uns bewusst machte, dass die Bewohner der Südhalbkugel, soweit sie europäische Traditionen und christliche Feste übernommen haben, diese in der entgegengesetzten Jahreszeit feiern. Weihnachten zur Sommersonnenwende, Karneval am Ende des Sommers, Ostern im Herbst und Allerheiligen nicht im trüben Novembernebel, sondern im schönsten Novemberfrühling. Europäische Volkslieder, wie »Der Mai ist gekommen« klingen hier schief, denn der argentinische Mai ist wie unser November alles andere als lieblich. Das Jahr ist in Argentinien durch die gleichen Feste gegliedert wie in Europa, aber alles wirkt wie aus der Zeit gefallen.
Diese Asynchronität gilt auch in größeren historischen Zusammenhängen. Heute saßen wir in einer Filiale des Café Martinez. Das Café Martinez ist eine Kaffee-Rösterei und eine Kaffeehaus-Kette, die ein wenig an Starbucks erinnert. Man kann dort verschiedene Kaffeesorten kaufen und trinken.
Gegründet wurde das Café Martinez im Jahr 1933, einer Zeit, in der es Argentinien gut ging. Nach der Weltwirtschaftskrise, die auch Argentinien erfasste und mit der restlichen Welt für einige Jahre synchronisierte, übernahm Perón die Macht und trieb die Industrialisierung des Landes voran. Mit einer aktiven Sozialpolitik hob er den Lebensstandard auch der ärmeren Bevölkerung. Im Tango nennt man die Zeit der dreißiger und frühen vierziger Jahre die Epoca d’Oro, die Goldene Epoche. In dieser Zeit nahmen großartige Orchester mit hervorragenden Musikern die Tangos auf, die noch heute auf den Milongas in aller Welt gespielt werden. Europa versank zur gleichen Zeit in Faschismus, Krieg und schließlich in Trümmern.
Einige Jahre zuvor, als der Erste Weltkrieg in Europa tobte, hatte Argentinien schon einmal eine wirtschaftliche Blüte erlebt. Immer wenn die Menschen im 20. Jahrhundert in Europa durch Kriege ihre Habe und ihr Leben verloren und anschließend hungerten, florierten die Städte Buenos Aires und Montevideo am Rio de la Plata.
Erst als nach dem Zweiten Weltkrieg Westeuropa einen nie gekannten Wirtschaftsaufschwung erlebte, vergiftete die Außenpolitik der USA den gesamten südamerikanischen Kontinent, sodass die Pracht der Jugendstilvillen allmählich verfiel. Das Gift der USA wirkte so nachhaltig, dass Südamerika über Jahrzehnte in Armut und Chaos versank, während in Asien neue globale Wirtschaftsmächte aus dem Nichts heranwuchsen.
Die Diktatoren, die von den USA an die Macht geputscht wurden, sind mittlerweile allesamt entmachtet, doch die Demokratisierung Südamerikas ging nicht mit wirtschaftlichem Aufschwung einher. Ganz im Gegenteil. Um die Jahrhundertwende kam es in Argentinien zu einer gewaltigen Wirtschaftskrise. Das Bankensystem brach zusammen, die Guthaben der Bevölkerung wurden gesperrt und schließlich gestohlen. Erst 2003 mit der Wahl Kirchners beruhigte sich das Chaos und es ging wieder aufwärts.
Im alten Hafenviertel von Buenos Aires wachsen nun wie in London die Hochhäuser in die Höhe. Aber ob das Herz Argentiniens nun mit dem Rest der Welt synchron schlägt – ich weiß es nicht.