Der polnische Handkuss
Als ich 1987 zum ersten Mal nach Polen reiste, war der Handkuss zur Begrüßung noch sehr gebräuchlich. In meiner Erinnerung sehe ich vor allem vollendete Handküsse, die ebenso rasch und unverbindlich ausgeführt wurden, wie der Handschlag. Sie glichen nicht den gezierten Handküssen aus österreichischen Operettenfilmen. Ob der Handkuss unter freiem Himmel oder bei unverheirateten Frauen nur angedeutet wurde, weiß ich nicht mehr zu sagen. In den Kreisen, in denen ich mich damals bewegte, waren auch die meisten jüngeren Personen bereits verheiratet. Der Handkuss war in den 80er Jahren keineswegs nur unter älteren Menschen üblich, sondern auch unter Studenten und jungen Akademikern. Aus der adeligen und großbürgerlichen Sphäre stammend erschien mir der polnische Handkuss ein Zeichen des Widerstands gegen den Sozialismus zu sein. Er war szlachetny und gab dem Zusammentreffen mit Freunden und Verwandten im tristen Grau des sozialistischen Alltags eine gewisse Würde und Distinktion. Es gab damals in Polen einige bürgerliche Höflichkeitskonventionen, die in Deutschland längst aus der Mode gekommen waren. Der Handkuss war unter ihnen eine besonders exotische Geste, die mir bis dahin im Alltag nie begegnet ist. Ich kannte ihn nur aus Filmen. Falls der Handkuss in Deutschland jemals üblich war, muss er spätestens nach dem Krieg ausgestorben sein.
Heute ist der Handkuss auch in Polen verschwunden. Der Kapitalismus mit seinen globalisierten Gesten aus der Konserve hat ihn verdrängt. Man begrüßt sich heute in Polen wie bei uns nach Mustern, die man der amerikanischen Unterhaltungsindustrie abgeschaut hat.
Das allmähliche Verschwinden des Handkusses habe ich nicht bemerkt, obwohl ich – mit einer Polin verheiratet – das Land regelmäßig besuchte. Dass in Polen niemand mehr die Hand küsst, fiel mir erst in diesem Sommer bei unserem letzten Besuch auf. Zum ersten Mal gingen wir abends in Warschau Tango tanzen. In den Milongas trafen wir auf eine Reihe von älteren Tänzern, die mit dem Handkuss aufgewachsen sein müssen. Aber sie begrüßten keine der anwesenden Tänzerinnen – weder die jungen noch die älteren Damen – mit einem Handkuss. Stattdessen gab es wie in den Milongas in Buenos Aires, Nijmegen oder Wuppertal zur Begrüßung oder nach einer Tanda ein angedeutetes oder vollendetes Küsschen auf die Wange.
Der Salón ist ein Ort, an dem Männer und Frauen sich mit besonderem Respekt begegnen und eine Reihe von Konventionen beachten, eben weil sie sich beim Tanzen sehr nah kommen. Mir erschien die Milonga ein idealer Rückzugsort für den aussterbenden Handkuss zu sein, weshalb ich sein Fehlen im Alltag erst dort überhaupt bemerkte.
Glücklicherweise hat die Globalisierung noch nicht alles nivelliert. In Buenos Aires küsst man einmal, in Wuppertal zweimal und in Nijmeegen dreimal. Die Polen küssen wie die Porteños: einmal.