Was bleibt von der Documenta?
Es wäre vermessen, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Die Documenta ist ein labyrinthisches Geschehen aus künstlerischen, banausischen und politischen Akten, aus ästhetischen Erfahrungen und kritischen Reflexionen, das einen Zeitraum von 100 Tagen und mehr durchdauert. Und in diesem Jahr fand die Documenta auch gleich zweimal statt, einmal in Kassel und einmal in Athen. Und wer, wie der Autor, nur einen einzigen Tag in Kassel war, sieht bloß die ephemere Momentaufnahme eines kleinen, subjektiven Teils des Ganzen.
Nun aber ist die d14 Geschichte wie die Oktoberrevolution und kann aufgearbeitet werden. Und wie jene Revolution vor einhundert Jahren provozieren auch die einhundert Tage der Documenta die unterschiedlichsten Deutungen.
Da die Documenta nicht zum Betrachter kommt, muss der Betrachter zur Documenta. Beginnen wir also mit der subjektiven Erfahrung. Ich brach am 10. September nach Kassel auf, eine Woche vor ihrem Ende. Es war ein wunderschöner Sonntag. Kurz vor der Eröffnung der Kassen fuhr ich in die noch fast leere Tiefgarage unter dem Fridericianum. An den Fressbuden, die sich an den ›Parthenon der Bücher‹ drängten, trank ich einen Kaffee. Dann kaufte ich mir ein Tagesticket und ging, nachdem ich den Beuys-Eichen meine Referenz erwiesen hatte, ins Fridericianum. Dort konnte man Werke aus dem National Museum of Contemporary Art (EMST) in Athen sehen. Antidoron, Gegengabe, lautete der Titel der Ausstellung. Ich begann meinen Rundgang im obersten Stock und das erste Werk, dem ich begegnete, rührte mich auch gleich am tiefsten an. ›Stilponos 7 - Episodes in Matter‹ von Rena Papaspyrou. Das Werk besteht aus 56 rechteckigen Tafeln, die in einem Raster von acht mal sieben angebracht sind und so ein mittelgroßes Wandbild ergeben. Die Tafeln bestehen aus unterschiedlichen Materialien: Naturstein, Holz mit verwitterter Farbe, verrostetes Metall. Aus der Ferne betrachtet, ergibt sich eine dekorative Wandinstallation. Doch sobald man näher herantritt, erkennt man plötzlich Gesichter, Tiere und kleine Szenen, die der Künstler in der Oberflächenstruktur nachgezeichnet und damit sichtbar gemacht hat. Auf den erodierten und unregelmäßig gefärbten Tafeln kann man, wie in Wolken, verschiedene Gebilde erkennen, ohne das man seiner Phantasie freien Lauf lassen muss. Das Werk erinnerte mich an den Boden im Bad meines Elternhauses, der mit einem hellen Linoleum ausgelegt war. Seine schwarze Maserung sollte vermutlich an edlen Marmor erinnern. Als Kind entdeckte ich in den Strukturen auf dem Boden, während ich auf dem Klo thronte, eine ganze Welt von Fabelwesen. Angerührt von der Erinnerung, die das Werk ausgelöst hatte, ging ich weiter und fragte mich, ob es auch dann so mächtig auf mich gewirkt hätte, wenn ich meinen Rundgang im Erdgeschoss begonnen hätte und erst nach Stunden und von den anderen Werken erschöpft hier oben angekommen wäre.
Die Gegengabe im Fridericianum sträubte sich mit ihren Werken ein wenig gegen die penetrante Politisierung, die nahezu alle Kritiker dem künstlerischen Leiter, Adam Szymczyk, vorwerfen. Und die Werke, die mich dort am meisten beeindruckt haben, waren auch – wie Stilponos 7 – eher mehrdeutiger Natur. Zum Beispiel ›Slumber‹ von Janine Antoni. Das Werk besteht aus einem Bett, auf dem die Künstlerin geschlafen haben soll, während ein EEG ihre Hirnströme aufzeichnete. Die Linien des EEG wurden dann zum Muster auf einer Stoffbahn, die aus einem Webstuhl herausläuft und zum Betttuch des Bettes wird, auf dem die Künstlerin schlief. Natürlich erinnert die Installation in einer griechischen Sammlung sofort an Penelope, die Gattin des Odysseus, die die lästigen Freier durch das ewige Weben und nächtliche Wiederauflösen eines Totentuches von – heute würde man sagen – sexuellen Übergriffen abhielt.
›The Crossroad Where Oedipus Killed Laius‹, ein anderes ebenfalls abstraktes Werk, weckte den Spieltrieb der Besucher. Mit ihren Smartphones fotografierten sie die flachen Strukturen auf einem schwarzen Eisentisch. Die Bilder, die so entstanden, wirkten wie Luftaufnahmen aus großer Höhe. Mit unseren Fotoapparaten wiederholten wir – denn auch ich ließ meine Kamera über dieser grauen Welt schweben – so einen Teil der Werkentstehung. Der Künstler, George Hadjimichalis, hatte um den Tisch herum genau solche Fotos an den Wänden gruppiert.
Und schließlich hing im gleichen Raum gegenüber von Crossroad das Bild einer brechenden Welle, das ich zunächst für ein Foto hielt. Es war aber ein Gemälde. Der fotorealistische Schaum der Welle entstand, indem der Künstler weiße Farbe auf die Leinwand tropfen ließ. Eine faszinierende Anwendung dieser Technik. Auch hier waren aber im Abstrakten Figuren versteckt, die eine zweite völlig andere Wahrnehmungsweise des Bildes eröffneten.
Als ich nach einigen Stunden das Fridericianum verließ, hatte sich am Parthenon der Bücher eine Menschenschlange gebildet. Sie warteten darauf, eingelassen zu werden. Man begann damit, die Bücher aus den Säulen wieder zu entfernen und an die Besucher zu verteilen. Jeder durfte drei Bücher mitnehmen. Ich hatte jedoch keine Lust mich anzustellen und ging stattdessen zum Königsplatz, wo ein anderes Wahrzeichen der d14 aufgerichtet war: der Obelisk mit der Aufschrift aus dem Matthäus-Evangelium in vier Sprachen. ›Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.‹ Ob die Verbindung zwischen dem immens aufgeladenen Symbol eines Obelisken und dem neutestamentarischen Text nun plump ist oder nicht, sei einmal dahingestellt. Als ich dort war, machte auf dem Königsplatz gerade eine Splitterpartei Wahlkampf. Die Situation rief mir die soziale Plastik aus dem Jahre 2015 in Erinnerung, als Angela Merkel und viele andere von uns Deutschen den vor dem Bürgerkrieg geflohenen Syrern das Gastrecht gaben, auf das der Evangelist Matthäus anspielt. Diese bedeutendste soziale Plastik des letzten Jahres war auf der d14 anwesend und abwesend zugleich. Was die Kritiker als penetrante Politisierung der Documenta geißeln, ist vielmehr der beklagenswerte Zustand der Kunst, die hinter den erweiterten Kunstbegriff zurückgefallen ist und sich damit begnügt, auf soziale Plastiken zu verweisen, statt sie zu schaffen.
An dem sonnigen Sonntag im September besuchte ich noch die Documenta-Halle, die Neue Galerie und das Palais Bellevue. Die Aussicht von der Schönen Aussicht, wo sich die Imbissbuden zu einer sozialen Plastik des Eventkonsums vereinigten, war sehr schön. Auf den Bergen in der Ferne drehten sich die Windräder der Energiewende.
Abends vor der Rückfahrt kaufte ich mir noch drei Bücher: den Reader und das Daybook der d14 sowie die Documenta-Ausgabe des Kunstforums. Das Kunstforum lässt kein gutes Haar an der Documenta. Adam Szymczyk habe das politisch korrekte Gutmenschentum auf die Spitze getrieben, so die einhellige Meinung in den Essays des Kunstforums. Die Documenta sei ein Parforceritt durch alle Traumata, die diese Welt zu bieten hat. Ob Kapitalismus, Kolonialismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Klimakatastrophen, Krieg, Flucht, Vertreibung – alles, was Leiden schafft, war vertreten. Und wenn die Kunst einmal kein Trauma hergab, so musste doch wenigstens die KünstlerIn verstümmelt, marginalisiert, transgender oder am besten – wie Lorenza Böttner – alles zusammen sein, um in die Documenta aufgenommen zu werden. Damit sei die Documenta ein Themenpark für Leute, die mit dem guten Gefühl nach Hause fahren wollen, auf der richtigen Seite zu stehen.
Wenn man vor den Schrumpfköpfen von Ursula von der Leyen und Beate Zschäpe steht, ist man geneigt, den Kritikern recht zu geben. Denn ›A War Machine‹ von Sergio Zevallos hinterlässt nach der ersten ästhetischen Sensation durch den bewussten Tabubruch dann doch eher das schale Gefühl der Fremdscham. Und die Aufdringlichkeit der Kuratoren zerstört nicht selten das ästhetische Erlebnis der Kunst. So hing beispielsweise direkt gegenüber der Schrumpfköpfe strahlend angeleuchtet das kitischig attraktive Selbstbildnis von Lorenza Böttner. Von weitem betrachtet, sieht es wie eine pointilistische Fingerübung aus. Doch der Eindruck gefriert zu seinem Gegenteil, wenn man nähertritt und erkennt, dass es aus lauter farbigen Fußabdrücken gemacht ist. Wenn man dann aber eine Etage tiefer an dem Erinnerungsschrein für Lorenza Böttner steht, dann fühlt man drückend das Zuviel der Kuratoren. Mit einer Penetranz, die nur Genderaktivisten aufbringen können, zerstört der Kurator jede unmittelbare ästhetische Erfahrung der Werke durch die gender- und körperpolitische Zuspitzung der Lebensgeschichte von Lorenz/Lorenza.
Was bleibt also von der Documenta? Mir bleibt ein Daybook, dessen gegenderte Texte die Offenheit der Kunst durch die enthemmte Übergriffigkeit der Genderaktivisten hektisch verschließen. Man ist beim Lesen des Daybooks dankbar für jeden Text, in dem keine Afrikaner_innen, Akteur_innen, Aktivist_innen, Antikriegsdemonstrant_innen, Arbeitsmingrant_innen, Architekt_innen, Autor_innen, Balletttänzer_innen, Begleiter_innen, Beobachter_innen, Besucher_innen, Betrachter_innen, Bewohner_innen, Bürger_innen, Dichter_innen, Doppelagent_innen, Einwanderer_innen, Empfänger_innen, Expert_innen, Fernsehzuschauer_innen, Filmemacher_innen, Fluxus-Kolleg_innen, Führer_innen, Grenzgänger_innen, Historiker_innen, Immigrant_innen, Journalist_innen, Kolleg_innen, Kolonist_innen, Komponist_innen, Konzeptkünstler_innen, Kurator_innen, Kämpfer_innen, Künstler_innen, Künstlerkolleg_innen, Lehrer_innen, Leser_innen, Maler_innen, Migrant_innen, Muttersprachler_innen, Märtyrer_innen, Nichtdarsteller_innen, Partner_innen, Passant_innen, Politiker_innen, Protagonist_innen, Rechtsanwält_innen, Rentierhalter_innen, Rentierzüchter_innen, Revolutionär_innen, Romanautor_innen, Sender_innen, Sprecher_innen, Stadtplaner_innen, Sámi-Künstler_innen, Theoretiker_innen, Träger_innen, Tänzer_innen, Veranstalter_innen, Wegbereiter_innen, Zeug_innen, Zivilist_innen, Zuhörer_innen oder Zuschauer_innen vorkommen. Der Gender-Lektor der Documenta – oder heißt es Gender-Zensor – hatte jedenfalls alle Hände voll zu tun, um das Daybook zu redigieren. Einen kundigen Setzer konnte man sich dann allerdings nicht mehr leisten.
Im Reader verzichten die Herausgeber dankenswerterweise auf das nachträgliche Gendern von Texten, sodass man das Buch nach dem Vorwort von Adam Szymczyk vom Gender-Tourette halbwegs ungestört lesen kann.
Die Rekonstruktion der d14 hat gerade erst begonnen. Mag sich die Kunstgeschichte daran abarbeiten. Im Gegensatz zur entspannten Beliebigkeit der Skulptur Projekte in Münster, die ich in diesem Jahr ebenfalls besuchen konnte, bot die Documenta einen diszipliniert zusammengestellten Querschnitt durch die politische Kunst. Ein solcher Überblick dürfte einzigartig gewesen sein. Dass durch die Vielfalt der Formen manchmal ein recht einfältiger Inhalt zum Ausdruck kam, liegt vielleicht an der von einem Kritiker im Kunstforum diagnostizierten apokalyptischen Weltsicht des künstlerischen Leiters.
Die Massierung verändert aber unsere Wahrnehmung politischer Kunst. So wie Pina Bausch durch das Mittel der Wiederholung Alltagsgesten verfremdet und dadurch ihre Konventionalität, ihre Absurdität oder ihre verzweifelte Tiefe offenbart, so dekonstruiert auch die d14 das Konventionelle und Absurde in der politischen Kunst, das uns entgeht, wenn wir ihr zwischen lauter abstrakten Werken begegnen.
Die 20 übereinander gestapelten Abwasserrohre neben der Documenta-Halle waren mir am späten Nachmittag bloß noch ein nettes Fotomotiv. Natürlich gibt es auch zu diesem Kunstwerk eine Geschichte des Leidens. Der kurdische Künstler, Hiwa K, hat auf seiner Flucht aus dem Irak in Griechenland in einem Rohr übernachtet, während er auf seine Weiterfahrt warten musste. (Diogenes grüßt den Bildungsbürger!) Und 1971 seien Fotos pakistanischer Flüchtlinge entstanden, die in Kalkutta in eben solchen Rohren hausen mussten. Das Wrack eines Flüchtlingsbootes, das der Künstler mit indigen anmutenden Musikinstrumenten ausstattet, wird in der politischen Masse nicht mehr nur pflichtschuldig als Anklage gegen die europäische Flüchtlingspolitik gelesen, sondern auch als Ausbeutung fremden Leidens. Und das den Rassismus anklagende ›Skin Set Project‹ von Pope.L oder Maria Eichborns Projekt ›Rose Valland Institut‹, das »die Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas« erforscht und dokumentiert, registriert man nach sechs Stunden Documenta mit einem Gefühl der Erleichterung, dass nun alle Anklagen vollständig versammelt sind und man das Klassenbuch endlich schließen kann. Dabei stellt sich ganz und gar nicht das gute Gefühl ein, auf der richtigen Seite zu stehen.
In der Erinnerung können wir die d14 beliebig rekonstruieren und die Wirkung zweier Werke gegenüberstellen, die weit voneinander entfernt ausgestellt wurden. Die australische Künstlerin Bonita Ely thematisiert eine posttraumatische Belastungsstörung, indem sie aus den Möbeln des elterlichen Schlafzimmers einen Wachturm, ein Lager und ein Maschinengewehr erbaut. Der Bezug zum Spiel von Kindern, die die Möbel ihrer Eltern zweckentfremden, ist offensichtlich. Doch die düstere Installation ließ mich kalt. Ganz im Gegensatz zum oben beschriebenen ›Stilponos 7 - Episodes in Matter‹ von Rena Papaspyrou, das mich direkt in eine postanale Kindheitsphase katapultierte, in der ich, selbstvergessen und froh auf dem Throne kackend, mich von meiner Imagination entführen ließ.