Werft die Angel nicht ins Korn!
Konfuzius sagte: »Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.« Da Fische heute fertig filetiert in der Tiefkühltruhe liegen, besitzt kaum noch jemand eine Angel oder ein Fischernetz. Vom Wissen darum, wie man einen Fisch damit fängt, will ich gar nicht erst sprechen. Dieser Verlust an persönlicher Überlebensfähigkeit wird, so die gängige Erklärung der Sozialwissenschaftler, durch Arbeitsteilung ausgeglichen. Und die Wirtschaftswissenschaftler fügen hinzu, dass der Markt schon alles richten werde.
Von Arbeitsteilung kann man aber heutzutage kaum noch sprechen. Wir haben bei diesem Begriff immer eine mehr oder minder gleichmäßige Verteilung der Arbeit vor Augen. Wir stellen uns vor, dass in der Gesellschaft ein gewisser Prozentsatz der Menschen eine bestimmte Arbeit erledigt, also zum Beispiel fischen geht. Angesichts der Globalisierung sowie der Automatisierung muss man heute aber wohl eher von einem Promillesatz ausgehen. Gewaltige Fangflotten, bemannt mit einigen sehr schlecht bezahlten Arbeitern aus den ärmsten Ländern dieser Welt, kümmern sich darum, dass die Fischstäbchen fangfrisch auf dem Teller der verwöhnten Wohlstandsgesellschaft landen. Die Arbeiter auf diesen schwimmenden Fabriken werden sich ganz gewiss nicht als Fischer verstehen. Arbeitsteilung ist kein Phänomen, das wir erfahren können. Wir kennen die Menschen nicht mehr, die eine Arbeit erledigen, die wir selbst nicht bewerkstelligen können oder wollen. Außerdem ist die Arbeit auch meist durch Entfremdung geprägt. Sie wird von anonymen Unternehmen, von Maschinen und von uns völlig unbekannten Menschen erledigt, zu denen wir keinerlei Beziehung haben.
Bis in die frühen 80er Jahre hinein wurden die westlichen Gesellschaften von machtvollen Institutionen geprägt, zu denen sich der Einzelne ablehnend oder affirmativ verhalten konnte. Dazu gehörten die Kirchen, die Gewerkschaften und der Staat. Jede dieser Institutionen stellte einerseits Ansprüche an das Individuum, andererseits boten sie ihm aber auch einen solidarischen Gemeinschaftsraum. Der Einzelne war damit aufgehoben in der Gemeinschaft der Gläubigen, der Solidarität seiner sozialen Klasse oder dem bürgerlichen Gemeinwesen seiner Nation. All diese Institutionen haben heute an Macht eingebüßt. Sie können weder große Ansprüche stellen, noch können sie dem Einzelnen Gemeinschaft garantieren. Die Kirchen haben ihre Gläubigen an den modernen Hedonismus verloren. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen und von innen korrumpiert. Bei dem Begriff Betriebsrat denkt man heute eher an von der Konzernleitung spendierte Bordellbesuche denn an Streik und Arbeitskampf. Und der Staat, der früher einmal die kritische Infrastruktur von Bahn und Post beherrschte und seinen Bürgern ein soziales Netz bot, hat seine Assets privatisiert und seine Leistungen gestrichen. Kirche, Staat, Gewerkschaft – das sind heute entkernte Institutionen ohne Macht. Das hat weitreichende Folgen.
Die Gesellschaft war früher zum Beispiel wesentlich pluralistischer als heute, wo es bloß noch eine Institution gibt, die das Leben beherrscht: nämlich den transnationalen Kapitalismus in Form von juristisch unangreifbaren und vollständig entpersonalisierten Konzernen. Deshalb können weder Staat und Kirche, noch die Gewerkschaften das Individuum gegen die Konzerne verteidigen. Der Einzelne, völlig losgelöst von den Ansprüchen, die einst Staat, Kirche oder Klasse an ihn gestellt haben, befindet sich in einer ausgeklügelten Zwickmühle. Egal, was er tut, er stärkt die Macht der Konzerne. Jeder, der eine Facebook-Seite einrichtet, verfestigt die Macht des Konzerns, selbst dann, wenn es sich dabei um eine Anti-Facebook-Seite handelt. Und jeder Attentäter, der bei Google nach den Ingredienzien für eine Bombe sucht, um die Google-Zentrale in die Luft zu sprengen, verhilft der Datenkrake zu Werbeeinnahmen, selbst dann, wenn er fündig würde und die Bombe eines Tages zündete.
Wer Produkte und Dienstleistungen von Konzernen einkauft oder diese kostenlos nutzt, vergrößert ihre Macht und stärkt das System des entgrenzten Kapitalismus. Kauf- und Nutzungsverweigerung scheinen die einzigen noch verbliebenen Widerstandsstrategien zu sein. Doch als individuelle Haltung ist dieser Widerstand zum Scheitern verurteilt. Der Einzelne ist ja nicht einmal in der Lage, durch den Kauf von Biofleisch die Massentierhaltung zu beenden.
Die einzige Strategie, die auf Erfolg hoffen darf, ist der Aufbau alternativer Strukturen. Und damit wären wir wieder bei Konfuzius oder vielmehr der Angel, die wir freiwillig ins Korn geworfen haben. Denn im übertragenen Sinne ist sie eine Waffe, sodass das Bild wieder stimmig wird. Die Hoffnung, dass sich etwas ändert, wenn wir den Konzernen kollektive Strukturen entgegenstellen, ist gering, aber sie ist immerhin ein Strohhalm. Wer nun ins nächste Anglergeschäft läuft, um sich eine Angel zu kaufen, hat nicht verstanden, worum es geht. Es geht um professionelle Strukturen kollektiver Art, nicht um ein gemeinschaftlich betriebenes Hobby.
Viel Zeit bleibt uns nicht. Denn wenn wir es nicht schaffen, von unten kollektive Strukturen aufzubauen, dann werden ganz andere Kräfte das vom Kapitalismus marginalisierte Individuum verführen. Religiöser Fanatismus, Rassismus, Nationalismus, der Wunsch nach einem starken Führer – die Geißeln der Vergangenheit stehen bereit, um die Welt ein weiteres Mal ins Verderben zu stürzen.