Die Erstürmung der neuen Bastille
Metzger, Ärzte, Klavierbauer
Am 14. Juli 1789 befreite das Lumpenproletariat sieben Häftlinge aus der Bastille, vier Urkundenfälscher, zwei Geisteskranke und einigen Quellen zufolge den Schriftsteller Marquis de Sade, den seine Familie dort hatte einweisen lassen. Der Kommandant der Bastille, Bernard-René Jordan de Launay, der auf die Menge hatte schießen lassen, wobei 90 Personen den Tod fanden, wurde trotz Zusicherung freien Geleits nach seiner Kapitulation von einem Metzger geköpft. Das Oberhaupt des Pariser Magistrats, der Adelige Jacques de Flesselles, der den Kommandanten retten wollte, wurde ebenfalls geköpft. Die Köpfe, die man auf Heugabeln unter dem Jubel der Bevölkerung durch die Straßen trug, sollten nicht die einzigen Köpfe bleiben, die während der Revolution rollten. Der Name des Metzgers, der aufgrund seines Berufs mit dem Abtrennen von Körperteilen vertraut war und die revolutionäre Praxis nachhaltig beeinflusste, ist nicht überliefert. Dies blieb dem Arzt Joseph-Ignace Guillotin vorbehalten, der den Vorgang des Köpfens verfeinerte und automatisierte, sodass die Metzger von Paris sich wieder der Nahrungsmittelversorgung der unruhigen Bevölkerung widmen konnten. Die erste Guillotine wurde übrigens von dem deutschen Klavierbauer Tobias Schmidt gebaut, der damit der Revolution ihren charakteristischen Klang gab.
Kuchenfressender Mob
Das Lumpenproletariat von heute trägt Kleidung von Primark und frisst Kuchen aus der Selbstbedienungsbäckerei. Es umzingelt keine Gefängnisse oder Irrenanstalten, um die Gefangenen und Insassen zu befreien. Wenn überhaupt tritt es als Mob in Erscheinung, der ein Flüchtlingsheim anzünden möchte. Die Unterhaltungsindustrie hat die wichtigste Ursache für kriminelle und revolutionäre Handlungen, die Langeweile, beseitigt. Metzger suchen händeringend Lehrlinge. Heute ist es wahrscheinlicher, von einem Meteor erschlagen zu werden, als in revolutionären Wirren den Kopf zu verlieren.
Realwirtschaft und Kasino
Dabei ähneln die Verhältnisse in der Welt heute denen im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Das Finanzkapital, das sich in den Händen einer winzig kleinen Gruppe von Superreichen befindet, übersteigt den Wert der globalen Realwirtschaft um das Vierfache. Während des Bruttoweltprodukt 70 Billionen US-Dollar beträgt, beläuft sich das Vermögen der Finanzkapitalisten auf 270 Billionen. Im Jahr 2000 war das Verhältnis zwischen Realwirtschaft und Finanzkapital 1:3, im Jahr 1990 1:2. Wer nach einer finanztechnischen Definition des Neoliberalismus sucht, dürfte sie im Verhältnis von Real- und Finanzwirtschaft gefunden haben. Die Herrscher von heute sind nicht die Regierungen und Parlamente, sondern diejenigen, die diesen Finanzmarkt beherrschen.
Die Zahl der Köpfe
Die Metapher von den 1 % verschleiert die tatsächlichen Machtverhältnisse. 1 % von 8 Milliarden sind 80 Millionen. So viele Supermegareiche gibt es natürlich nicht. Aber diese Personen leben in überdurchschnittlichem Luxus und vielleicht sind sie die Elite, von der heute so viele sprechen. 99 % dieser Wohlhabenden sind Handlanger und Lakaien: CEOs und private Unternehmer, Rechtsanwälte, Banker, Wissenschaftler und Politiker. 1 % der 1 %, also vielleicht rund 800.000 Personen, machen heute den kapitalistischen Hochadel aus. Darunter befinden sich amerikanische Multimilliardäre, die Eigentümer wirklich großer Vermögensverwaltungen wie Blackrock, arabische Herrscherfamilien, hochrangige chinesische Parteifunktionäre und russische Oligarchen.
Ablenkung und Zerstreuung
Eine globale Revolution, die die 1 % der 1 % also rund 800.000 Köpfe der Guillotine zuführte, ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Denn das moderne Lumpenproletariat reibt sich in kunstvoll inszenierten, ethnischen, religiösen und sozialen Konflikten auf. Es besitzt kein Bewusstsein für die globalen Zusammenhänge. Es hat keine militärische Macht, und es ist auch politisch nicht organisiert.
Die 99 % der 1 %, die so genannten Eliten, konkurrieren miteinander um die Gunst der 1 % der 1 %. Gelegentlich gefallen sich einige dieser Hofnarren in revolutionären Attitüden, die als kurzatmige Erregungswellen durch die sozialen und klassischen Medien laufen.
Utopie und Dystopie vereinigen sich
Die 99 % sind ebenso vielschichtig strukturiert wie die 1 %. Während einige schuften und hungern, arbeiten und feiern andere in sattem Konsum. Mit einer Übermacht von 4:1 drängt das Kasinokapital in die Realwirtschaft und erzwingt rasante Produktivitätssteigerungen durch totale Automatisierung. Die Warenproduktion wächst und wächst. Absolute Armut wird relativiert. Die Utopie einer Welt, in der Automaten alle erwünschten und unerwünschten Waren produzieren und die Menschen frei haben, vereinigt sich mit der Dystopie einer Endzeit, in der das Kapital die Menschen und die Welt nicht mehr benötigt, um sich zu reproduzieren.
Das Versteck der Köpfe
Die herrschende Klasse hat sich wie eine Matrjoschka mit Doppelgängern umgeben, die den Zorn der 99 % auf sich ziehen und in fingierte Klassenkämpfe hineinziehen, während die innerste Matrjoschka von allen gesellschaftlichen Verwerfungen unberührt bleibt. Die herrschende Klasse ist in ein Darknet abgetaucht. Sie kopiert in der realen Welt das Verhalten von Regimegegnern, Pädophilen und Raubkopierern, die sich, geschützt durch das Zwiebelschalen-Protokoll des Tor-Systems, unerkannt im Internet bewegen. Labyrinthische Finanzverflechtungen, Matrjoschka-Doppelgänger und die üblichen Sündenböcke führen die Ohnmächtigen in die Irre.
Jede revolutionäre Bewegung muss darauf vorbereitet sein, dass die vorletzte Matrjoschka leer ist. Der Finanzkapitalismus ist schneller als jede Revolution. Lange bevor ihm eine Bewegung gefährlich werden kann, hat sich die herrschende Klasse abgesetzt und in einer anderen Matrjoschka verborgen. Diese Agilität ist die Stärke der herrschenden Klasse, aber auch ihre Schwäche. Sie ist ständig in Bewegung und verändert laufend ihr Gesicht. Aus dem Nichts der Wüste entstand in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts durch die industrielle Extraktion von Öl der arabische Finanzkapitalismus. Noch schneller erblühte am Ende des letzten Jahrhunderts der chinesische Staatskapitalismus. Das Spielfeld verändert sich mit den Spielern, die auftauchen und auch wieder verschwinden. In einer solchen Dynamik könnten sogar revolutionäre Umstürze nicht nur wirkungslos, sondern sogar völlig unbemerkt bleiben. Der Kapitalismus überholt jede Revolution.
Was tun?
Wir können nicht schnell genug denken, geschweige denn rechtzeitig handeln, um dem Finanzkapitalismus den Kopf abzuschlagen. Was ist revolutionär in einer Welt, in der selbst Entschleunigung eine kurzlebige Modeerscheinung ist? Die Programmierung eines Virus der alle Konten löscht? Die Gründung resilienter Geheimbünde, die eine zweite Welt entwerfen? Die Kreuzung menschlicher und pflanzlicher DNA zur Erzeugung vegetativer Baummenschen?
Die französische Revolution benötigte Metzger, Ärzte und Klavierbauer. Welche Berufe braucht die nächste Revolution?