Der Taubenschlag in der Hosentasche
Früher, als man Nachrichten noch mit Hilfe von Brieftauben austauschte, musste man immer Tauben aus dem Taubenschlag seiner Brieffreunde im Käfig haben. In Brieftauben ist nämlich ein unidirektionales Protokoll implementiert. Sie fliegen immer nur zurück zu ihrem eigenen Taubenschlag.
Da die artgerechte Haltung von Brieftauben anspruchsvoll und teuer ist, man denke allein an die Kosten für das Vogelfutter, schrieb man sich früher nur dann einen Brief, wenn es wirklich notwendig war. Ein Bus voller Schulkinder, die im Sekundentakt über WhatsApp ihre Befindlichkeiten austauschen, war früher undenkbar. Erstens gab es keine Busse, sondern höchstens Kutschen. Zweitens gingen die meisten Kinder nicht zur Schule, und konnten daher auch nicht schreiben. Und drittens war es sehr unbequem, jeden Tag Hunderte von Brieftauben mit sich herumzuschleppen, nur um seiner Freundin mitzuteilen, dass man gerade einen Espresso bei dem neuen Italiener trinkt.
Was heute keiner mehr weiß: Brieftauben besitzen ein Verfallsdatum. Insbesondere, wenn man die Fütterung unterlässt, können sie vorzeitig sterben. Und wenn man sie zu lang bei sich einsperrt, gewöhnen sie sich an die neue Umgebung und verlieren die Sehnsucht nach ihrem Heimatschlag. Viele Brieftauben sind früher auch Raubtieren zum Opfer gefallen. Katzen auf der Tastatur, das war damals nicht ratsam, denn beim Absenden der Nachricht wäre so manche Brieftaube von dem felinen Begleiter des Menschen verspeist worden. Daher finden wir in den sozialen Netzwerken des Mittelalters auch kaum Katzenbilder.
Die ganze Handhabung der Taubenkommunikation war also alles andere als benutzerfreundlich. Vor allem musste man höllisch aufpassen, dass man jede Nachricht mit der passenden Taube verschickte. Ein unbedachter Griff in den Käfig und die Nachricht trudelte gurrend beim falschen Empfänger ein. Das führte natürlich bei delikaten Briefchen oft zu Verstimmungen. Die noch heute übliche Aufforderung unter Firmen-E-Mails, die Nachricht zu löschen, wenn man nicht der rechtmäßige Empfänger sei, nutzten schon im Mittelalter besonders pfiffige Brieftauben-Nutzer, um ihre Überforderung einzugestehen.
Tauben haben, von heute aus betrachtet, viele Nachteile. Sie fliegen zum Beispiel nicht besonders schnell, sodass ein treffsicherer Jäger sie auf ihrem Flug zum Empfänger abschießen konnte. Dabei fiel ihm nicht nur ein saftiger Braten in die Hände, sondern auch so manche unternehmenskritische Nachricht. Deshalb wurden die Zettel früher oft verschlüsselt. Heute, wo E-Mails in Sekundenbruchteilen zugestellt werden, ist das nicht mehr nötig. Deshalb verschlüsselt auch heute kaum noch jemand seine E-Mails.
Menschen, die eine rege Korrespondenz pflegten, brauchten damals viel Platz. Ein Taubenschlag benötigt mindestens eine Grundfläche von 20 bis 25 Quadratmetern. Außerdem braucht man viele kleine Käfige, um seine eigenen Brieftauben an Freunde und Bekannte zu versenden. Und deren Brieftauben beanspruchten natürlich auch ihren Platz. Schließlich konnte man sie nicht mit seinen eigenen Tauben im offenen Taubenschlag verwahren. Sie wären ja alle gleich weggeflogen. Summa summarum: für seine Korrespondenz benötigte man früher mindestens den Dachboden eines mittleren Einfamilienhauses. Heute passt das alles in ein Smartphone, das man bequem in die Hosentasche stecken kann.