Das Irrationale in der Repräsentation

Einer der üblichen Gemeinplätze besagt, dass unser komplexes politisches System ohne Repräsentation nicht funktionieren könne. Die repräsentative Demokratie, so will uns diese Aussage weismachen, wird damit zu einem Sachzwang, den man nicht hinterfragen, sondern bloß akzeptieren kann. Da Millionen Bürger aus offensichtlichen, organisatorischen Gründen nicht in der Lage sind, Gesetze zu verabschieden, müssen dies gewählte Vertreter tun. Der Think Tank »Das progressive Zentrum« hat im Dezember 2017 ein ›Diskussionspapier‹ veröffentlicht, in dem die Autoren feststellen, dass die repräsentative Demokratie vor großen Herausforderungen steht. Der Think Tank (Slogan: Wir denken weiter!) denkt die repräsentative Demokratie aber nur bis zum deutschen Parteienstaat der Nachkriegszeit. Dass diese Form der repräsentiven Demokratie in einer Krise steckt, konzedieren wir gerne.

In ihrem achtseitigen Papier führen die Autoren eine Vielzahl von Gründen an, warum die repräsentative Demokratie in einer tiefen Krise steckt. So hätten sowohl die Parteien als auch der Parlamentarismus ein Repräsentationsdefizit, da ein Großteil der Bevölkerung im politischen Raum unterrepräsentiert sei. Die deskriptive Repräsentation sei aber ein »notwendiger, wenngleich nicht hinreichender Baustein für eine gelungene substantielle Repräsentation« 1 Ferner beklagen die Autoren ein Wiedererstarken spontaner Politik, worunter sie unter anderem Bürgerinitiativen und das um sich greifende Petitionswesen verstehen. Gleichzeitig zerfalle der öffentliche Raum zusehends in orale Stammesgesellschaften. Und schließlich ebne der Verlust von Wahrheit autoritärem Individualismus den Weg. Weitere Gründe für die Krise der Repräsentation sehen die Autoren auf der individual-psychologischen Ebene und zwar in einem übersteigerten Individualismus, einer fehlender Bindungsfähigkeit an die Parteien und der zunehmenden Angst vor einem Statusverlust.

Was sich im Einzelnen hinter den angeführten Gründen verbirgt, wird nicht weiter ausgeführt. Vermutlich ist eine tiefer gehende Analyse auch nicht die Aufgabe eines Diskussionspapiers, das mitunter mit bewusster Provokation Diskussionen anregen soll. Die Autoren nehmen eine breite Palette möglicher Einflussfaktoren in den Blick. Nur ein Element sparen sie völlig aus, die Repräsentation selbst. Im Untertitel des Diskussionspapier nehmen die Autoren zwar Bezug auf einen Wandel der Repräsentation, aber sie fragen sich nicht, was sich im Wandel der Repräsentation als Gleichbleibendes erhält, was also Repräsentation in Wahrheit ist.

Repräsentation ist eine Geburt des Mythos.

Historisch betrachtet, ist die Repräsentation eine Funktion des Mythos. Die griechischen Stadtstaaten führten ihre Existenz auf einen legendären Gründer zurück, der entweder direkt aus der Sphäre des Göttlichen kam oder ein durch seine Taten mit göttlicher Unsterblichkeit belohnter Heros war. Im Tempel war in der Vorstellung der Alten der Gründer oder Schutzgott ihrer Polis anwesend und durch ein Götterbild repräsentiert.

Über das Gottkaisertum der Römer kam die Vorstellung der Repräsentation göttlicher Macht in einem Menschen schließlich auf uns. Das Papsttum teilte sich die Repräsentation des Göttlichen mit den Königen und Kaisern des Mittelalters. Über Jahrhunderte repräsentierte die Monarchie in Europa die göttliche Ordnung. Die Krise der Repräsentation begann mit der Säkularisierung des Politischen. An die Stelle Gottes trat das Volk, das nicht minder mythisch ist als Athena Parthenos. Nur standen im Tempel der Nationalstaaten, den Parlamenten, keine überdimensionalen Götterstatuen mehr. In ihnen hauste ein Popanz mit dem Namen ›Volk‹, der durch den Staatspräsidenten und das Nationalparlament repräsentiert wurde.

Man kann nun trefflich streiten, ob das Prinzip der Repräsentation in den Jahrhunderten durch die Säkularisierung substanzieller oder aufgrund der Abwesenheit des Göttlichen einfach nur leerer wurde. Athene symbolisierte eine göttliche, den Menschen transzendierende Macht. Die Hypostasierung des Volkes in der Nation (oder der Klasse im Arbeiter- und Bauernstaat) trieb seltsame Blüten. Die hässlichste ist der Nationalsozialismus.

Man braucht jedoch nicht die Extreme bemühen, um an der Wurzel der Repräsentation das Irrationale zu entdecken, das im Mythos mit seinem Zwilling, der Rationalität, zu einer untrennbaren Einheit gepaart ist.

Der Repräsentation haftet etwas zutiefst Irrationales an. Sie ist alles andere als ein simples, rationales Verfahren zur demokratischen Organisation komplexer Systeme. Die repräsentative Demokratie ist mithin auch kein technokratischer Kniff, mit dem man die Willensbildung von 80 Millionen Bürgern mit vertretbarem Aufwand in den Griff bekommt. Die Krise der Repräsentation kann folglich auch nicht mit Verwaltungsakten geheilt werden. Leider scheinen die Autoren genau solche technokratischen Lösungen im Blick zu haben, wenn sie am Schluss des Diskussionspapiers »fundamentale Fragen für die Zukunft«2 stellen.

Die Fragen gehen am Wesentlichen vorbei, weil die Autoren sich und uns bereits durch ihre griffig formulierte Eingangsthese den Zugang zum Kern des Problems verstellen. Diese besagt nämlich, dass wir »in eine zeitgleiche Krise des Sich-Repräsentiert-Fühlens und des Nicht-Repräsentiert-Werden-Wollens geraten« seien.3 Für den Think Tank besteht mit anderen Worten das Problem darin, dass wir uns einerseits durch Politiker nicht mehr vertreten fühlen, gleichzeitig aber auch nicht mehr durch Politiker repräsentiert werden wollen. Diese These erscheint auf den ersten Blick keiner Rechtfertigung zu bedürfen. Ihre Gültigkeit wird uns durch arrogante Äußerungen von Politikern, wie zuletzt den Einlassungen Spahns zu den Hartz-IV-Leistungen, immer wieder wie mit dem Holzhammer eingebläut. Dennoch ist sie falsch.

Dasjenige, was in der Repräsentation vorgestellt wird, ist niemals eine sehr große, aber dennoch ganz konkrete Menge von Menschen, deren Willensbildung man beispielsweise durch ein statistisches Losverfahren wenigstens deskriptiv perfekt in den Griff bekommen könnte, sondern immer etwas Transzendentes, das den konkreten Einzelnen und die konkrete Menschenmenge überschreitet. Wer die Augen vor der Irrationalität der Repräsentation verschließt, übersieht das Erfolgsrezept des Populismus. Die repräsentative Demokratie gelingt nur, wenn sie selbst oder ihre zentralen Akteure, die Parteien, etwas Transzendentes repräsentieren. Sie funktionierte beispielsweise in der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre hinein, weil die deutschen Parteien bestimmte und klar gegeneinander abgegrenzte Wohlstandsideale repräsentierten. Das frei gewählte Parlament repräsentierte die ideale Gemeinschaft der freien Welt, die sich damals im Kalten Krieg mit dem Kommunismus wähnte. Repräsentation gelang auch eine Zeit lang auf europäischer Ebene, als die Friedensidee Europa in den europäischen Institutionen noch so wirksam repräsentiert wurde, dass wir ihre Mängel übersahen.

Für die Zukunft stellen sich damit ganz andere fundamentale Fragen: Was und nicht Wer soll in unserer Demokratie repräsentiert werden? Und wie gelingt es uns, diesem transzendenten Etwas diejenige Dauerhaftigkeit zu verleihen, die notwendig ist, um ein Gemeinwesen über Generationen zusammenzuhalten?

Wenn wir nicht atavistisch in einen heimattrunkenen Rassismus oder Nationalismus zurückfallen wollen, dürfen wir der Irrationalität im Wesen der Repräsentation nicht ausweichen. Repräsentation ist nicht eine wie auch immer geartete und durchgesetzte Vertretungsgerechtigkeit, sondern die Ausrichtung aller auf ein Transzendentes. Wenn man den politischen Kompromiss als Ausgleich von partikulären Interessen betrachtet, dann bedarf er einer Richtung, eines Wohin der Überschreitung einzelner Interessen. Die Vermittlung politischer Interessen ist nur dann transparent, wenn wir sie als ein Überschreiten partikulärer Interessen hin zu einem gemeinsamen Interesse verstehen können. Alles andere verdunkelt und korrumpiert den Kompromiss zu einem Resultat lobbyistischer Machenschaften. Es geht also nicht darum, uns, alle Einzelnen, im Parlament zu repräsentieren, sondern das, was die Einzelnen überschreitet und damit verbindet.

Um die repräsentative Demokratie zu heilen, erscheint mir deshalb die Allmende, das Gemeinwohl, und zwar perspektivisch möglichst das Gemeinwohl der gesamten Menschheit, ein besserer Ausgangspunkt zu sein, als verfahrenstechnische Reformen der aktuellen Parteiendemokratie.


  1. Bohne, Maik, u. a. Wieviel Ich im Wir? Wandel der Repräsentation in Deutschland. Das Progressive Zentrum e.V., 2017, S. 4, http://www.progressives-zentrum.org/wp-content/uploads/2018/03/Wieviel-Ich-im-Wir-Wandel-der-Repra%CC%88sentation-in-Deutschland_Maik-Bohne-Sebastian-Bukow-Laura-Kristine-Krause-Peter-Siller.pdf↩︎

  2. ebd. S. 6 ↩︎

  3. ebd. S. 2 ↩︎