Tatsächlichere Tatsachen

Warum Fakten gegen Populismus nicht helfen

Der öffentliche Diskurs steckt in einer beispiellosen Krise. Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit – zwei Tugenden, ohne die ein rationaler Diskurs unmöglich wird, werden nicht bloß durch Lügner und Betrüger angegriffen und durch Lüge und Verlogenheit herausgefordert, sie sind als Kategorien praktisch hinweggewischt worden. Zwischen der Lüge und der Wahrheit wird kein Unterschied mehr gemacht und wenn doch noch auf einer Differenz bestanden wird, so haben beide ihre Plätze vertauscht. Wie in einem Orwellschen Alptraum hat die Lüge den Platz der Wahrheit eingenommen, nicht in dem Sinne, dass etwas als gut bezeichnet wird, was in Wahrheit schlecht ist, sondern indem Populisten einfach jedes Wahrheitskriterium ignorieren. Die Lügner leugnen ihr Lügen auch gar nicht, denn sie wissen, dass ihrem Publikum der kategoriale Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit entweder gar nicht bewusst ist oder sie ihn rundweg ignorieren. Ob Trump oder andere Populisten die Wahrheit sagen oder lügen, ist für ihre Anhänger völlig irrelevant. Populisten haben nur eine Aufgabe, den Hass ihrer Anhänger zu repräsentieren. Solange sie dies tun, liegen ihnen die Massen zu Füßen und verzeihen alles. Populismus ist Repräsentation des Hasses, der sich als abgründiges Gefühl überhaupt nicht um Wahrheit oder Wahrhaftigkeit schert. Der Populismus kann deshalb auch nicht mit rationalen Argumenten bekämpft werden. Denn so wie der blinde Hass alle zivilisatorischen Schranken durchbricht, so befindet sich auch der Populismus außerhalb des zivilisatorischen Diskurses. Man kann dies sehr leicht an der Tatsache demonstrieren, dass populistische Argumente mit den offensichtlichsten Fakten leicht entkräftet werden können – ohne dass dies die geringste Wirkung zeigt. Derjenige, der rationalen Argumenten zugänglich ist, indem er einen kühlen Kopf bewahrt, durchschaut die Lügen der Populisten sofort. Selbst dann, wenn er die entkräftenden Fakten gerade nicht zur Hand hat, wird er den Aussagen der Populisten keinen Glauben schenken, da die Stimme des Hasses in der populistischen Rede unüberhörbar ist. Der Populismus kann die Vernunft nicht beirren, aber gleichzeitig kann das rationale Argument den Hass auch nicht erreichen.

Kommunikation ist ohne die Unterscheidung von Lüge und Wahrheit unmöglich. Der Populismus will diese Unterscheidung jedoch gar nicht treffen. Er ist nichts anderes als Repräsentation des Hasses, eine Kommunikation ist nicht beabsichtigt.

Populismus aus neophänomenologischer Sicht

Der Hassende ist vom Hass affektiv betroffen; sein Hass ist eine subjektive Tatsache. Subjektive Tatsachen sind im Verständnis der neuen Phänomenologie Sachverhalte, die nur derjenige aussagen kann, der von ihnen affektiv betroffen ist. Objektive Tatsachen sind dagegen Sachverhalte, die jeder kompetente Sprecher einer Sprache aussagen kann. Zu den objektiven Tatsachen gehören ganz einfache, die man durch bloßen Augenschein feststellen kann – zum Beispiel, dass es Tag oder Nacht ist oder dass ein Sack Reis, der an der Wand lehnte, umgefallen ist. Es können aber auch extrem abstrakte und reduktionistische Tatsachen sein, die nur derjenige aussagen kann, der über das entsprechende naturwissenschaftlich-mathematische Rüstzeug verfügt. Objektiven Tatsachen fühlen wir immer mit dem Kriterium der Wahrheit auf den Zahn.

Subjektive Tatsachen kann dagegen nur derjenige aussagen, der von ihnen affektiv betroffen ist. Dazu gehören Aussagen wie »Ich habe Angst«, »Ich habe Schmerzen«, »Ich bin verliebt« oder eben »Ich hasse«. Diese Aussagen kann nur derjenige machen, der von körperlichen Regungen wie Angst und Schmerz oder Gefühlen wie Hass und Liebe affektiv betroffen ist. Es ist schlechterdings nicht möglich, ihre Wahrheit in Frage zu stellen, ohne damit gleichzeitig auch die Existenz desjenigen in Frage zu stellen, der von diesen Regungen und Gefühlen affektiv betroffen ist. Der Hass des Hassenden kann daher durch rationale Argumente eher verstärkt als besänftigt werden, denn er wird die Argumentation als existenziellen Angriff verstehen, als Negierung seines Seins.

Hermann Schmitz, der Begründer der neuen Phänomenologie, hat die enge Beziehung zwischen subjektiven Tatsachen und dem Selbstbewusstsein ausführlich beschrieben. Das affektive Betroffensein von körperlichen Regungen und Gefühlen ist jeder Selbstzuschreibung des Bewusstseins vorgängig. Vor jeder Reflexion findet sich das Ich im affektiven Betroffensein. Die subjektiven Tatsachen, die das Selbstbewusstsein im affektiven Betroffensein erlebt, gehen ihm daher auch näher als die objektiven Tatsachen, die erst durch Negation und Neutralisierung entstehen. Subjektive Tatsachen sind Tatsachen, die mir buchstäblich nahe gehen, weil ich sie am eigenen Leib spüren kann. Sie sind mir die tatsächlicheren Tatsachen.

Eine Person ist nach Hermann Schmitz »ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung besteht darin, etwas für sich (oder sich für etwas) zu halten.«1 Dies ist aber nur möglich, wenn der Bewussthaber bereits vor der Identifizierung seiner selbst mit sich selbst mit sich bekannt ist. »Selbstzuschreibung ist also nur möglich, wenn ihr ein identifizierungsfreies Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung zu Grunde liegt. Und das gibt es wirklich, nämlich in Gestalt des affektiven Betroffenseins. Wenn ich z. B. Schmerzen habe, weiß ich sofort, dass ich leide, ohne einen Gequälten finden zu müssen, dem ich Identität mit mir zuschreibe. Ferner gibt es fassungslose Zustände mit gesteigerter oder im Gegenteil gelähmter Beweglichkeit – z. B. rasenden Zorn, panische Angst, Massenekstasen bei Festen oder Wutausbrüchen, hingegebenem Kampf im Eifer des Gefechts, Versunkenheit in Schwermut –, Zustände, in denen der Bewussthaber sich gar nicht mehr als Relat einer Identifizierung zur Verfügung steht und sich dennoch in der Intensität der Erregung oder Umnachtung deutlich spürt, viel stärker als bei gleichgültigen Verrichtungen im Alltag.«2

Der Hass der sogenannten Wutbürger, von dem sie affektiv betroffen sind, fällt vermutlich in diese Kategorie fassungsloser Zustände. Und es wäre sicher lohnend, den Hass neophänomenologisch näher zu bestimmen. Besonders interessant wäre dabei die Frage nach dem Verankerungs- und dem Verdichtungspunkt des Hasses. Schmitz hat diese Analyse meines Wissens für den Hass, anders als für den Zorn nicht durchgeführt. Bei der Wut, die Schmitz als kathartisches Gefühl bezeichnet, weil es bei seinem Auftreten oft sofort verraucht, ist der Verankerungspunkt das, worüber man zornig ist, und der Verdichtungspunkt derjenige, auf den man zornig ist. Mir scheint es so zu sein, dass der Hass bei aller Verwandtschaft mit dem Zorn weder einen klar umrissenen Verankerungspunkt benötigt, noch einen eindeutigen Verdichtungspunkt, denn nicht selten begegnen wir bei den so genannten Wutbürgern einem grundlosen Hass auf alles und jeden.

Wie dem auch sei, die Wutbürger sind von ihrem Hass affektiv betroffen, er geht ihnen nah und erscheint ihnen als subjektive Tatsache tatsächlicher als alle objektiven Tatsachen, die im öffentlichen Diskurs kursieren. Der öffentliche Diskurs, in dem die objektive Tatsachen den Meinungen einen Bedeutungsrahmen abstecken, innerhalb dessen sie aussagbar bleiben, reicht daher niemals an die subjektiven Tatsachen heran. Dies ist so lang kein größeres Problem, wie die objektiven Tatsachen im öffentlichen Diskurs die subjektiven überwölben. Wenn es aber den Populisten gelingt, den Hass der Wutbürger als Resonanzboden zu benutzen, und die subjektiven Tatsachen den Bedeutungsrahmen des öffentlichen Diskurses bestimmen, verlassen wir das Feld der Zivilisation und betreten den Boden der Barbarei.

Bildung als Schutzschild gegen die populistische Barbarei

Bildung wird immer wieder als Schutzschild gegen die populistischen Vereinfachungen in Stellung gebracht. Bildung, so heißt es, fördere das kritische Denken. Und immer wieder findet man in Statistiken einen auffälligen Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand der Untersuchten und ihrer Anfälligkeit für populistische Parolen. Menschen mit höherer Bildung sind offensichtlich weniger anfällig, den Rattenfängern auf den Leim zu gehen. Die Statistiken berücksichtigen jedoch lediglich den formalen Bildungsstand, also die Frage, ob jemand einen Hauptschul- oder Hochschulabschluss besitzt. Eine Erklärung dafür, wie und warum eine höhere Bildung vor Populismus schützt, kann die Statistik nicht erbringen.

Die neue Phänomenologie hat dagegen ein reiches Instrumentarium an Begriffen, um solche Zusammenhänge zu beschreiben. So ist in neophänomenologischen Verständnis Bildung personale Emanzipation; ein Prozess, bei dem das Selbstbewusstsein die subjektiven Tatsachen durch Negation und Neutralisierung in objektive Tatsachen verwandelt. Dieser Prozess beginnt im Säuglingsalter und endet mit dem Tod. Eine vollständige Neutralisierung und Negation subjektiver Tatsachen ist dabei jedoch weder möglich noch wünschenswert, da die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins dem Selbstbewusstsein allererst den Boden bereiten, auf dem es so sicher steht, dass es die subjektiven Tatsachen negieren und neutralisieren kann. Diese notwendige Rückbindung an affektives Betroffensein nennt die neue Phänomenologie personale Regression.

»Personale Emanzipation«, sagt Schmitz, »ist die Vereinzelung und Neutralisierung von Bedeutungen mit der Folge, dass sich vom Neutralen und Fremden das Eigene abheben und so die Persönlichkeit festigen und ausbilden kann. Die Kritikfähigkeit, die strategische Übersicht zur Organisation von Mitteln für gesetzte Zwecke, die unparteiische Bewertung sind Kompetenzen personaler Emanzipation.« 3

Dies ist jedoch nur die eine Hälfte der Medaille. »Die Person bedarf für die Bereitstellung des Relats der Selbstzuschreibung des Zugangs zur primitiven Gegenwart und muss daher, gegenläufig zu ihrer personalen Emanzipation, in das Leben aus primitiver Gegenwart zurücktauchen, wo sie durch den vitalen Antrieb und das leiblich-affektive Betroffensein Zugang zur primitiven Gegenwart hat (…) Das ist die Leistung der personalen Regression.4

So wie Engung und Weitung im vitalen Antrieb miteinander verschränkt sind, bilden auch personale Emanzipation und Regression gegenläufige, miteinander verbundene Bewegungen. Die einseitige Unterdrückung einer Seite muss daher zu Störungen in der Persönlichkeitsbildung führen. Bildung kann daher nie einseitig als Prozess personaler Emanzipation aufgefasst werden. Ihr ganzheitlicher Begriff muss die personale Regression mit umfassen.

Wenn die personale Regression das Relat der Selbstzuschreibung bereitstellt, verbindet sie uns mit dem Urgrund unseres Seins, dem Leben aus primitiver Gegenwart, das wir nebenbei bemerkt mit vielen Tieren teilen. Ohne Bezug auf die primitive Gegenwart ist keine personale Emanzipation möglich. Wir haben es hier also mit einer Beziehung, einer Relation, zu tun, die neophänomenologisch als Leiblichkeit bezeichnet wird, im christlichen Zusammenhang als Geschöpflichkeit die Grundlage einer relationalen Ontologie bildet und im psychologisch-pädagogischen Sinne so zusammengefasst werden kann: Erziehung ist Beziehungsbildung im wortwörtlichen Sinne.

Wenn Bildung vor populistischen Strömungen schützt, dann nicht deshalb, weil sie mehr Wissen anhäuft, mit dem die Wahrheit populistischer Aussagen besser und umfassender geprüft werden könnte, sondern weil sie Beziehungen bildet, und zwar sowohl in intellektueller Hinsicht als Beziehung zu Fremdem, was dadurch angeeignet wird, als auch in existenzieller Dimension als Beziehung zur Leiblichkeit. Oder anders gesagt: Wenn wir den Populismus besiegen wollen, müssen wir der personalen Regression zu ihrem Recht verhelfen. Wenn wir dies nicht tun, bricht sie wie aus dem Nichts im populistischen Mob hervor.

Der Verdacht liegt nahe, dass das Gleichgewicht aus personaler Emanzipation und personaler Regression in den letzten Jahren erheblich gestört wurde. Die regressive Aggression des Populismus ist dafür ein unübersehbares Symptom.

Es sollte uns beispielsweise zu denken geben, dass es dem aktuellen Populismus so mühelos gelingt, seine brachialen Verstöße gegen eine als restriktiv wahrgenommene Political Correctness zu aufklärerischen Tabubrüchen hochzustilisieren. Wie kann das sein? Vermutlich haben wir es mit einer Verdrängung der personalen Regression zu tun. Denn die Political Correctness verbietet dem Individuum die Benutzung von Formulierungen, mit denen es sozialisiert wurde und die mithin zur Ausstattung seiner persönlichen Situation gehören.4 Vielleicht ist die Political Correctness das exponierte Phänomen einer gesellschaftlichen Stimmung, die generell die personale Regression ächtet und damit dem Menschen den Zugang zum Relat der Selbstzuschreibung abschneidet.

Was aber liegt einer solchen Stimmung zugrunde? Ein erster Verdächtiger dafür wäre der Neoliberalismus, dem es gelungen ist, die kapitalistische Reduktion des Menschen auf seine Funktion als Ressource zur Kapitalakkumulation in weiten Kreisen der Bevölkerung psychologisch zu internalisieren. Erstmals in der Geschichte der Menschheit verzichtet der neoliberale Mensch freiwillig auf die allseitige Ausbildung seiner Humanität, indem er sie, und damit sich selbst, aus eigenem Antrieb dem Optimierungswahn des Kapitals aufopfert. Er verlässt die in sich verschränkte lebendige Sphäre aus personaler Emanzipation und personaler Regression und wird zum leblosen Humanoiden, der sich auf Befehl internalisierter Programme, wie zum Beispiel der Political Correctness, selbst optimiert.

Vor diesem Hintergrund mutet der Auftrag, den Hermann Schmitz in der Rückschau seinen philosophischen Bestrebungen zuschreibt, geradezu revolutionär an:

»Die Neue Phänomenologie (…) verfolgt die Aufgabe, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen, das heißt, nach Abräumung geschichtlich geprägter Verkünstelungen die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung wieder zugänglich zu machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Das Nachdenken der Menschen ist heute durch vermeintliche Selbstverständlichkeiten aus Konventionen und aus Hypothesen, die im Dienst irgend welcher Konstruktionen stehen, dermaßen gefesselt, dass die Freilegung der unwillkürlichen Lebenserfahrung umfangreicher Anstrengungen bedarf; sie ist aber von großer Wichtigkeit; weil sie zum Ausweg aus gefährlichen Verengungen und Verstrickungen des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, damit aber auch der Lebensführung, verhelfen kann.«5


  1. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. 4. Aufl. Freiburg München 2009. S. 29 ↩︎

  2. ebd. S. 30 ↩︎

  3. ebd. S. 103 ↩︎

  4. ebd. S. 104. Die ›Kurze Einführung‹ erklärt auch die zentralen neophänomenologischen Begriffe der primitive Gegenwart und des vitalen Antriebs↩︎ ↩︎

  5. ebd. S.7 ↩︎