Das bürgerliche Lager lässt die Maske fallen
Neun Tage nachdem die Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz sich zum fünfundsiebzigsten Mal jährte, ließen die bürgerlichen Parteien in Deutschland die Maske fallen und paktierten mit denen, die das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als ein Mahnmal der Schande bezeichnen. Der Handschlag zwischen Höcke und Kemmerich im Thüringer Landtag besiegelte den Pakt zwischen den Bürgerlichen und den Faschisten. Wer Augen im Kopf hat, konnte dies kommen sehen, denn Kemmerich hat seine Gesinnung im Wahlkampf nicht einmal verborgen. Auf Plakaten warb er mit seinem nackten Schädel und dem Spruch: »Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat«. So platt und offen wurde selten ein Kassiber verschickt.
Dass der Faschismus und andere populäre Unmenschlichkeiten immer dann auftauchen, wenn der Kapitalismus in einer existenziellen Krise steckt, ist seit langem bekannt. Der Anlass aber, der das bürgerliche Lager dazu zwang, sein wahres Gesicht zu zeigen, erscheint geradezu grotesk unbedeutend. Von Bodo Ramelow ging niemals eine Gefahr für die kapitalistischen Strukturen in Thüringen aus. Er ist so rot, wie Winfried Kretschmann grün ist. Die erste Amtszeit eines linken Ministerpräsidenten in Deutschland verlief so geräuschlos und unspektakulär, dass vermutlich genau diese Anpassung an die Macht der Grund dafür ist, dass er dem bürgerlichen Lager gefährlich wurde. Denn während die Linke überall in Deutschland an Zustimmung verliert, stabilisierte Ramelow seine Partei in Thüringen bei 31 %.
In einem Land, dass seine Außenhandelsüberschüsse wie Frontberichte verkündet, darf sich nicht einmal das Surrogat linker Politik in den Köpfen der Menschen etablieren. Jede Hoffnung auf ein gerechtes Leben bedroht den Verblendungszusammenhang, den die Macht errichtet hat, um die Menschen zur Selbstausbeutung abzurichten. Bodo Ramelow musste also weg, gerade weil der Protestant so harmlos wirkt und objektiv für den Kapitalismus auch gar keine Gefahr darstellt.
Der unbedeutende Anlass, der die Fratze der Unmenschlichkeit hinter der bürgerlichen Fassade offenbarte, spricht Bände. Das Bürgertum hat blanke Panik erfasst. Und es hat allen Grund dazu. Die wirtschaftlichen Blitzkriege Deutschlands haben im Fernen Osten längst ihr Stalingrad erlebt. Während China zur technologisch führenden Weltmacht aufsteigt, steht die deutsche Autoindustrie vor der bedingungslosen Kapitulation. Die technische und organisatorische Infrastruktur des Exportweltmeisters ist am Boden zerstört; schon der Bau eines Flughafens überfordert das Land. Das europäische Projekt, mit dem die deutsche Wirtschaft ihren Imperialismus kaschierte, zerfällt. Die Zentralbanken haben alle Schleusen geöffnet, um frisches Geld in die entgrenzten Finanzmärkte zu pumpen. Die Situation ist also ernst, aber nicht dramatischer als die früheren zyklischen Krisen des Kapitalismus, die er bisher durch raffiniertere Verbrechen oder hemdsärmlig durch Krieg und Faschismus immer wieder überstanden hat.
Doch nun bedroht ihn das Ende allen Wachstums. Der vom Kapitalismus verursachte Zusammenbruch der klimatischen Verhältnisse auf diesem Planeten lässt sich nicht länger verdrängen. Die Wissenschaftler müssen in immer kürzeren Abständen ihre Berechnungen revidieren und die letzte Katastrophe aus der abstrakten Zukunft in die unmittelbar bevorstehende, konkrete Gegenwart verlegen.
Mit dem Tod des Patienten stirbt auch der Krebs, der ihn umbrachte. Die Klimakatastrophe ist der tiefere Grund für die Panik des Bürgertums, dessen Ideologie des endlosen Wachstums in ferner Zukunft Wohlstand für alle versprach, um den Menschen hier und jetzt um so leichter den gerechten Anteil an ihrer Arbeit verweigern zu können. Bisher war es nur der einzelne Unterdrückte, der am Ende erkennt, dass er sein Leben lang betrogen wurde und keine Belohnung nach dem Tod sein falsches Leben vor dem Tod kompensieren würde. Heute steht die Gattung vor dieser Erkenntnis.