Notizen zur Dialektik der Aufklärung
Das Rationale am Mythos ist die Art wie er das Inkommensurable und Nicht-Identische dem begrifflichen Zugriff des Menschen anpasst. Er belässt es nicht dabei, der kontingenten Naturgewalt ihre Geheimnisse zu entreißen. In seinem Kern geht es vor allem darum, menschliche Gemeinheit und Niedertracht zu rechtfertigen. Dies erhellen die Episoden der Odyssee, von denen Horkheimer und Adorno einige in der ›Dialektik der Aufklärung‹ analysieren.
In einer Episode des Epos verschlägt es die Söhne Ithakas an die Küste der Kyklopen, wo Odysseus die fehlende Triebsteuerung des Kyklopen Polyphem ausnutzt, um diesen mit den Ko-Tropfen des Dionysos wehrlos zu machen und gemeinsam mit seine Gefährten zu blenden. Und als sei diese Gewalttat nicht Gemeinheit genug, so verhöhnt Odysseus das Opfer auch noch nach gelungener Flucht aus sicherer Entfernung. Gerechtfertigt wird die Gewalt, die Polyphem erleidet, durch sein fremdartiges Verhalten. Er missachtet das heilige Gastrecht und betrachtet Odysseus und seine Gefährten als willkommene Abwechslung seines einfachen Speiseplans. Der Mythos zeichnet ihn nach dem Vorbild eines Hirten, der unter seinen Schafen ein paar leckere Wachteln entdeckt, mit gezielten Steinwürfen tötet und sich schmecken lässt. Das Märchen spiegelt keineswegs die Angst vor einer Urgewalt der Natur wider. Es kritisiert vielmehr den gewaltsamen Zugriff des Menschen auf alle Ressourcen, denen er habhaft werden kann. Und zu diesen Ressourcen gehören letztlich auch die Menschen, die sich in Herren und Knechte teilen. Die Entscheidung, ob man Herr oder Knecht ist, fällt nicht das kontingente Schicksal allein. Sie ist durch Rationalität beeinflussbar. Die körperliche Überlegenheit des tölpelhaften Hirten reicht nicht aus, um die gerissenen Städter zu versklaven. Sie bemächtigen sich des Riesen, verstümmeln ihn und verhöhnen schließlich das Opfer. Dass diese Tat die Strafe Poseidons nach sich zieht, die zehnjährige Irrfahrt, dient dem Anführer der Banditen aus Ithaka, so erscheint es im Fortgang des Epos bloß dazu, seine List und Verschlagenheit an weiteren Opfern zu üben.
Dass der Prozess der Aufklärung durch die Angst vor der Macht unberechenbarer Naturgewalten in Gang gesetzt wurde, erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig. Dass Aufklärung in Unheil umschlug, was Horkheimer und Adorno als Index ihrer Dialektik verstanden, ist sehr viel eher ein Indiz dafür, dass sie nie etwas anderes war, als eine Entlastungsstrategie, um Barbarei als Heldentat darzustellen. Man könnte dagegen einwenden, dass die Odyssee ein später Mythos ist, der bereits soziale Verhältnisse und nicht mehr die unmittelbare Begegnung mit Naturgewalten zum Inhalt hat. Doch auch die griechischen Schöpfungsmythen, die älter sind und die Furcht vor den Naturgewalten ursprünglicher zeichnen sollten, enthalten durch die Ausgestaltung des Olymp mit anthropomorphen Gewalten bereits die gleiche Dialektik. Wer das Göttliche personifiziert, vergöttlicht auch die Person. Das Nicht-Identische, also die Natur, die sich nicht oder nicht vollständig anthropomorphisieren lässt, wird wie das Doppel-Ungeheuer Skylla und Charybdis an den Rand gedrängt.
Die christliche Antike erbt den sozialen Mythos wie die Georgslegende zeigt. Hier ist von undurchschaubarer Naturgewalt keine Rede mehr. Die Maler des Mittelalters machten sich nicht einmal die Mühe, den Drachen, den der mit aller Kriegstechnik seiner Zeit ausgerüstete Georg schlachtet, als besonders gefährlich aussehen zu lassen. Allein dies ist schon ein Indiz dafür, dass dem Drachen nicht die Aufgabe zufällt, symbolisch für die überwältigende Naturgewalt zu stehen. Er ist vielmehr ein beliebig herbeizitierbares, ikonographisches Klischee zur Versinnbildlichung eines sozialen Missstands. Das Verbrechen des Drachen, das seine schmachvolle Hinrichtung in Gefangenschaft rechtfertigt, bestand in einer libidinös entgrenzten Tributforderung und spiegelt damit übergriffige Auswüchse des Lehnsrechts der feudalen Gesellschaft wider. Der Drache, der scheinbar so übermächtige Lehnsherr, wird von Georg gefangen und in die tributpflichtige Stadt geführt, wo Georg ihn hinrichtet, nicht jedoch ohne vorher mit den Einwohnern neue Lehnspflichten ausgehandelt zu haben. Die Georgs-Legende rechtfertigt den Mord an dem zur Bestie vergröberten Herren durch die christliche Mission, wobei die revolutionäre Botschaft verschleiert wird. Der aufklärerische Kern der Legende besteht in der impliziten Kritik an einem unchristlichen und damit ungezügelten Lehnswesen, in dem ein von keiner Moral gezügelter Herrscher danach trachtet, aller erreichbaren Ressourcen seiner Lust habhaft zu werden.
Menschliche Barbarei wird in der Georgslegende nach dem Vorbild der griechischen Antike dämonisiert und damit aus dem Kreis des Humanen ausgeschieden und dem Nicht-Humanen, der Natur zugeordnet. Da Natur aber bereits rationalisiert ist, bleibt bloß ihre groteske Ikone, die, leer und abstrakt wie jedes Allgemeine, das Irrationale im Menschen, das entsorgt werden soll, widerstandslos aufnimmt. Diese Entlastungsstrategie liegt jedem blinden Fortschrittsglauben zugrunde, der davon ausgeht, dass alles gut wird, wenn wir nur alles beherrschen und unseren Zwecken unterworfen haben.
Dieser Dehumanisierung menschlicher Niedertracht im ikonographischen Bild des Drachens entspricht die Humanisierung der einst als übermächtig empfundenen Naturgewalt im Naturschönen, das der Mensch angeblich mit interesselosem Wohlgefallen betrachtet. Dieses Selbstbild der historischen Aufklärung ist eine wohlgefällige Lüge, die bis heute fortwirkt. Selbst kosmologische Konjekturen der modernen Physik werden mit der Ästhetik mathematischer Gleichungen begründet. Während in den Naturwissenschaften eine Variante des interesselosen Wohlgefallens fortlebt, hat der empirische Mensch das Naturschöne immer mit dem Blick des Besitzergreifenden betrachtet, der wie Odysseus seinen Vorteil abschätzt. Wo das aufstrebende Bürgertum in verblendeter Selbsttäuschung das Naturschöne erblickt, sah der Bürger die Plantage, die ihm Reichtum verschafft, den Jagdgrund, der ihm Beute verspricht oder die attraktive Kulisse für ein Hotel der Luxusklasse.
Wenn Aufklärung in dunkler Vorzeit im Mythos versuchte, die inkommensurable Macht der Natur kommensurabel zu machen, so ist sie nicht nur gleich zu Beginn dialektisch in die Herrschaft des Menschen über die Natur und seinesgleichen umgeschlagen, sie ist auch krachend gescheitert, denn das Nicht-Identische der Naturgewalt ist mit ungebrochener Gewalt wieder da. Dadurch dass wir die endlich durchschauten Naturgesetze für einige Jahrhunderte ausschließlich zu unserem Vorteil missbrauchten, haben wir die Natur so verändert, dass sie sich nun gegen uns wendet. Indem wir in zweihundert Jahren so viel Kohlenstoff in die Atmosphäre freigesetzt haben, wie ihr der natürliche Kreislauf aus Leben und Sterben in Milliarden Jahren entzog, haben wir alle klimatischen Parameter so verschoben, dass wir brennen werden. Wir erkennen mit Jammer und Schauder, dass wir trotz aller technischen List den unerbittlichen Gesetzen der Natur unterworfen sind. Kein Odysseus findet für uns die Klausel, die uns von den Konsequenzen entbindet.
Das Inkommensurable, das sich jeder Aufklärung entzieht, ist zurück und erweist sich als die durchrationalisierte Welt der Naturgesetze, die jeder Anthropomorphisierung entbehren kann, da sie unser eigenes Werk ist. Dass aus dem eigenen Werk das Verderben kommt, ist jedoch so unbegreiflich, dass es durch keinen Mythos mehr rationalisiert, sondern bloß noch schlichtweg geleugnet werden kann. Es ist kein schwacher Gott in Sicht, der mit einem Noah den Keim zu weiterem Unheil entkommen lässt. Die Krone der Aufklärung, die universalen Gesetze der Natur, sind unerbittlich – wie der Mensch, der sie formulierte.