Das Ganze und die Teile des ganzen Rests
Der postmoderne Mensch ist unfähig, sich als Teil eines Ganzen zu sehen. Er ist sich selbst das Ganze, dem die Teile der übrigen Welt, der ganze Rest, zu Diensten sein sollen. Dieser soziale Singularismus findet seine unverschleierte Verkörperung im amerikanischen Präsidenten, der ein kollektives Ereignis wie den Klimawandel oder die Covid19-Pandemie leugnen muss, um mit seinem rücksichtslos individualistisches Weltbild nicht in Widersprüche zu geraten, die selbst ein blondiertes Toupet nicht mehr leugnen könnte.
Die Maske ist für rücksichtslose Vulgär-Individualisten seines Schlages ein Ärgernis, da sie die Bekämpfung der Pandemie als kollektives Handeln markiert und damit dem Einzelnen seine Abhängigkeit von der Gemeinschaft unübersehbar vor Augen führt.
Kollektivistischere Gesellschaften bekommen die Pandemie besser in den Griff als der antisoziale Westen. Sie bestimmen den Einzelnen als Teil einer Gemeinschaft, der selbst der Herrscher zu dienen hat. Der westliche Individualismus versteht Gemeinschaft dagegen bestenfalls als Beute, die es gilt, unter den räuberischen Selfmade-Millionären zu verteilen.
Anstatt seine gesellschaftliche Gebundenheit anzuerkennen, verlässt sich der Maskenverweigerer in der Lotterie des viralen Geschehens lieber auf sein Glück, da es bekanntlich mit dem Tüchtigen ist. Die natürliche Auslese durch das Virus ist für ihn ein beziehungsloses Geschehen, das ganz seiner individualistischen Ideologie entspricht. Der Überlebenskampf findet nur im Individuum statt. Jeder Ausgang, ob Tod, Genesung oder komplette Verschonung, bestätigt seinen Individualismus. Wer stirbt, hatte Pech oder war zu schwach; wer überlebt, war stark genug oder hatte Glück. Sollte der Maskenverweigerer im Kampf ums Überleben die Hilfe anderer benötigen, kauft er diese auf dem beziehungslosen Markt mit dem Kapital, das er durch Glück oder Tüchtigkeit – in der Räuber-Ideologie des Kapitalismus gilt beides als standesgemäß – erworben hat.
Der Singularist, der nur Einzelnes sieht, über das er beliebig verfügen kann, übersieht dabei, dass das Infektionsgeschehen ein kollektives Geschehen ist, das durch kollektives Handeln beeinflusst wird und damit für den Einzelnen grundsätzlich unverfügbar ist. Alles, was wir dem Virus entgegensetzen, selbst die Forschung an Impfstoffen, die der Marktliberale als individualistischen Wettlauf von Unternehmen um den größten Gewinn so überaus richtig versteht, ist mehr als das. Das Wissen, auf dessen Grundlage wissenschaftliche Forschung überhaupt nur möglich ist, ist kollektiver Reichtum, der nicht einfach für den Einzelnen verfügbar ist, sondern durch kollektives Handeln tradiert und vermehrt werden muss.
Der Singularismus hat jedoch nicht allein den Maskenverweigerer befallen. Die neoliberalistische Indoktrination, die seit Jahrzehnten die Homogenisierung der Gesellschaft in beziehungslose Einzelne vorantreibt, führt auch diejenigen an der Nase herum, die guten Willens sind. Sie haben zwar trotz aller kapitalistischen Indoktrination eine diffuse Vorstellung vom Gemeinwohl bewahrt. Doch sie können sie nur noch mit den Mittel der atomistischen Gesellschaft in Form abstrakter Zahlen begreifen. Sie streiten mit den Maskenverweigerern auf dem Feld der Statistik, das keineswegs so neutral ist, wie die Positivisten uns glauben machen wollen. Wer Gesellschaft auf Statistik reduziert, hat den Kampf gegen den sozialen Singularismus bereits aufgegeben, bevor er ihn überhaupt ernsthaft aufgenommen hat.
Die Grundthese des Singularismus, das alles Seiende Einzelnes sei, geht auf Wilhelm von Ockham zurück. Alles Wirkliche ist Einzelnes, Allgemeines existiert nicht in der Wirklichkeit, sondern bloß im Verstand der Menschen. Die Allgemeinbegriffe sind nur Namen, die wir den einzelnen Dingen anheften. Der Nominalismus hat sich tief ins westliche Selbstverständnis eingegraben. Bereits bei Ockham selbst korreliert der Nominalismus mit einer geradezu aufrührerisch individualistischen Sozial- und Glaubenslehre. Der Staat hat als Allgemeinbegriff keine eigene Substanz und damit keinerlei Geltung. Er hat ausschließlich dem Wohl aller Einzelnen, dem Gemeinwohl, zu dienen. Der Herrscher erhält seine Legitimiät vom Volk, dessen Wohl er zu fördern hat. Tut er dies nicht, ist das Volk berechtigt, ihn von der Macht zu entfernen, einen Tyrannen darf es sogar töten. Noch individualistischer ist Ockhams Glaubenslehre. So vertritt er den theoretischen Standpunkt, dass ein einzelner Christ in Glaubensfragen gegenüber der gesamten Christenheit, zuvörderst natürlich gegenüber dem Papst, den Ockham für einen Häretiker hielt, im Recht sein könne. Dieser alle Grundfesten der Kirche erschütternde Gedanke inspirierte erst Luther, dann die Reformation und schließlich zahllose Sekten, die auch nicht lange warteten, um als einzig legitime Nachfolger Christi auszuschwärmen und auf der ganzen Welt für Unheil zu sorgen.
Wenn alles Seiende unmittelbar Einzelnes ist, kann man es nur noch zählen. Der Kapitalismus reduzierte die Menschen auf zählbare Funktionseinheit. Er befreite den Bürger damit aus ständisch-religiöser Knechtschaft, was eine ungeheure wirtschaftliche Dynamik entfaltete und dem Kapitalismus große Durchschlagskraft verlieh. Er setzte sich auf der ganzen Welt durch und entwertete als universales, global gültiges Wertesystem alle anderen Selbstverständnisse des Menschen. Die nationalistischen und religiösen Gewalttaten, die überall auf der Welt aufflammen, sind kein Index dafür, dass die entwerteten Selbstverständnisse noch immer bestimmend sind; vielmehr müssen wir konzedieren, dass es sich bei ihnen um die Verzweiflungstaten der vom Neoliberalismus Vereinzelten handelt. Sie sehnen Gemeinschaft herbei, haben aber keinen Begriff mehr davon und wollen sie deshalb in sprach- und machtloser Wut herbeitoben.
Die Pandemie erinnert uns daran, wie dialektisch das Verhältnis der Teile zum Ganzen, des Einzelnen zur Gemeinschaft ist. Und nichts führt diese Dialektik sinnfälliger vor Augen als die Maske. Wer eine Maske trägt, schützt die Anderen, und wenn alle eine Maske tragen, schützen alle alle Einzelnen. Die Maske ist ein kollektives Werkzeug, das nur in kollektiver Anwendung einen Sinn erfüllt: das Gemeinwohl zu schützen. Der Maskenverweigerer stellt seinen persönlichen Geltungsdrang dagegen über das Gemeinwohl; sein Egoismus, der nach der Ideologie der Marktradikalen eigentlich nicht anders kann, als auf wundersame Weise das Gemeinwohl zu befördern, bedroht es in Wirklichkeit.
Wer heute in der Pandemie Menschen begegnet, die ganz selbstverständlich eine Maske tragen, findet in gewisser Weise seinen inneren Frieden, da er sich inmitten einer Gemeinschaft wiederfindet, die kollektiv handelnd das gemeinsame Wohl verfolgt. Die Dialektik gibt jedoch keine Ruhe: was wir bei der Maske begrüßen, verurteilen wir beim Schleier, dieser im Westen so verhassten Geste der Unterwerfung unter das Allgemeine. Das Skandalöse dieser Dialektik wird keineswegs dadurch aus der Welt geschafft, dass man darauf verweist, dass der Nutzen der Maske wissenschaftlich erwiesen sei, während der Schleier lediglich die Unterwerfung der Einzelnen unter die Herrschaft religiöser Machtverhältnisse signalisiert. Natürlich könnten wir zwischen aufgeklärter Unterwerfung hier und unaufgeklärter dort unterscheiden. Die Wissenschaft aber, die den Nutzen der Masken beweist, tut dies mit Mitteln, die auch auf Denker wie Wilhelm von Ockham zurückgehen, nach dem alles Seiende unmittelbar Einzelnes ist. Und auf ihn könnte sich ein einzelner Maskenverweigerer berufen, der behauptet, als einziger gegen alle anderen im Recht zu sein.
Dort wo kollektives Handeln Gemeinschaft stiftet, durch Maske oder Schleier, geschieht dies aus ethischen Gründen, nicht aus wissenschaftlichen. Die Frage, die wir letztlich beantworten müssen, lautet: welche Ethik muss ich gelten lassen? Leider weicht der westliche Individualismus dieser Frage ebenso aus wie der religiöse Konservatismus.