Sie müssen dieses Buch nicht lesen, aber Sie sollten wissen, warum es bemerkenswert ist.
Ich rezensiere keine Bücher. Goethe hat in einem seiner Gedichte alles gesagt, was man über Rezensenten wissen muss. Und das war nicht sehr freundlich. Vor einigen Tagen hat mich aber eine Buchkritik dermaßen erbost, dass ich sogleich den Verlag des verrissenen Buches1 anschrieb, um ein Rezensionsexemplar für eine Gegenkritik zu erbitten. Wenn dies hier also eins der von Goethe so verhassten hündischen Machwerke ist, beschäftigt sich mindestens die Hälfte dieser Rezension mit jener Rezension.
Verfasst wurde besagte Kritik von dem Schriftsteller Hans Christoph Buch. Die Neue Zürcher Zeitung hat sie unter dem umständlichen Titel Der Ungeist der Konformität – die nur schwer zu lesenden chinesischen Weisheiten des grossen Vorsitzenden Xi Jinping veröffentlicht.
Diese Rezension ist so ziemlich das Dümmste, was ich seit sehr langer Zeit gelesen habe. Bereits in der Einleitung ist jeder Satz falsch:
»In einem renommierten Wissenschaftsverlag sind gesammelte Reden von Xi Jinping auf Deutsch erschienen – ein fragwürdiger Kotau vor Macht und Geld. Die Lektüre der Texte gleicht einer Hirnwäsche. Seinem Vorbild Mao kann Xi das Wasser sichtlich nicht reichen.«
Das besprochene Buch enthält jedoch gar keine Reden des chinesischen Staatspräsidenten; eine Tatsache, die dem Rezensenten schon bei oberflächlicher Durchsicht aufgefallen sein muss. Warum es ein Kotau wäre, das Wort darf in einem Text über China niemals fehlen, wenn dem aber so wäre, erschließt sich mir nicht. Die Reden des chinesischen Staatspräsidenten ins Deutsche zu übersetzen und zugänglich zu machen, hielte ich vielmehr für eine sehr verdienstvolle Tat, insbesondere für einen renommierten Wissenschaftsverlag, denn eine solche Primärquelle ist für Menschen, die des Chinesischen nicht mächtig sind, ansonsten nicht zugänglich. Aber vielleicht zeichnet sich Wissenschaft für den Rezensenten dadurch aus, dass man politisch unerwünschte Stimmen unterdrückt. Und ob die Lektüre eines Buches einer Gehirnwäsche gleicht oder nicht, sagt oftmals mehr über das Gehirn des Leser aus als über das Buch.
Aber wie bereits erwähnt, handelt es sich gar nicht um Reden des chinesischen Staatspräsidenten. Das Buch macht den Leser vielmehr mit teilweise uralten, chinesischen Weisheiten bekannt, die Xi Jinping in seinen Reden zitiert hat. Ein Zitat von Mao ist übrigens nicht darunter. Trotzdem darf man vermuten, dass Mao neben Kongxi, Laozi, Zongxi und vielen weiteren kaiserlichen Beamten, Weisen und Dichtern zu den Vorbildern Xi Jinpings gehört. Das ist aber im Zusammenhang des Buches völlig unerheblich.
Das Buch erinnert auch nicht an die Mao-Bibel, die der Rezensent, wie er freimütig zugibt, als junger Spund wild schwenkend durch die Straßen des Jahres 1968 getragen hat. Der Vergleich ist aber wohl in einer Kritik über ein zeitgenössisches, chinesisches Buch ebenso unverzichtbar wie der unvermeidliche Kotau. Wem das Gehirn gewaschen wurde, mag der Leser entscheiden. Der Rezensent ist jedenfalls so verblendet, dass er sogar einige der Weisheiten, die in dem Buch besprochen werden, zitiert, ohne zu bemerken, was das wirklich Bemerkenswerte an diesem Buch ist.
Was ist das also für ein Buch? Das Buch führt 135 Weisheiten aus mehr als 2000 Jahren chinesischer Geschichte auf, die der chinesische Staatspräsident in seinen Reden zitiert hat. Ich kenne übrigens nur ein weiteres Staatsoberhaupt, das regelmäßig auf Zitate zurückgreift, die einen ähnlich großen Zeitraum umspannen, und das ist der Papst, der in seinen Enzyklikas gerne aus einem ähnlich reichen Schatz an Weisheiten schöpft. Westliche Regierungschefs, die nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt gerne autobiografisch in Erinnerungen schwelgen, streuen in ihre Reden bestenfalls einmal ein geflügeltes Wort ein; und die Tweets des Präsidenten der westlichen Großmacht USA markieren so ziemlich den absoluten Nullpunkt politischer Rhetorik.
Die aufgeführten Weisheiten werden vom Autor des Buches, Chen Hongyan, nicht nur im Kontext der aktuellen chinesischen Politik erläutert. Er benennt ihre ursprüngliche Quelle, verweist auf die Tradierung des Gedankens durch nachfolgende chinesische Denker, nennt verwandte Sprüche und kommentiert das Ganze. Chen Hongyan macht uns mit den politischen Überzeugungen des chinesischen Staatspräsidenten bekannt, indem er diese im Licht von 135 chinesischen Weisheiten interpretiert. Dies alles tut er sehr schematisch, sodass das Buch tatsächlich nicht flüssig zu lesen ist.
Was ist nun an dem Buch bemerkenswert. Zunächst einmal die Tatsache, dass der Autor uns den chinesischen Staatspräsidenten als einen Mann präsentiert, der bei der Führung der größten Nation auf Erden auf die Geschichte und das tradierte Wissen Chinas zurückgreift. Damit bekommt die Politik des modernen Chinas eine gewaltige historische Tiefe. Im Westen wird die Berufung auf traditionelle chinesische Werte gerne damit abgetan, dass die kommunistische Partei sich quasi mit dem Glorienschein der Vergangenheit selbst legitimieren möchte. Einen Großteil seiner Reden hielt Xi Jinping jedoch vor Parteigenossen, denen er bestimmte Verhaltensweisen als vorbildlich darstellen wollte. Man könnte also sagen, dass Xi die kommunistische Partei auf traditionelle chinesische Werte verpflichten möchte. Dabei stehen immer wieder sehr konkrete Fragestellungen im Mittelpunkt, wie zum Beispiel die Verpflichtung aller Funktionäre, sich um das Gemeinwohl zu kümmern. Xi beruft sich nicht einfach auf ein Erbe, so wie sich einige konservative Politiker gerne auf das christliche Abendland berufen. Er wird deutlich konkreter.
Ich finde es bemerkenswert, dass in vielen Weisheiten der Verlust von Macht und Legitimität zur Sprache kommt. Xi macht nicht den Eindruck, als wenn er davon ausginge, dass die Kommunistische Partei Chinas für immer fest im Sattel sitzt. Das Gegenteil ist der Fall. Aber anders als die kapitalistischen Eliten im Westen zieht sich Xi nicht in eine Gated Community zurück, wo sich die westlichen Eliten vor den Ausgebeuteten dieser Welt verstecken. Stattdessen weist er in seinen Reden vor Parteifunktionären immer wieder auf die Gefahren hin, die aus Korruption und schlechter Verwaltung für die Partei erwachsen. Xi Jinping weiß aufgrund seiner Herkunft und seines langen und mühsamen Aufstiegs in der Partei, wovon er redet, wenn er Konfuzius zitiert: »Wer abweicht vom rechten Weg, mag Befehle erteilen, ihm wird nicht gehorcht.« Xis Vater war 1959 Vize-Premierminister. Noch vor der Kulturrevolution verlor er seine Ämter und wurde schließlich von den Roten Garden inhaftiert. Xi musste mehrere Anläufe nehmen, um in die Partei aufgenommen zu werden. Er durchlief alle Stufen der Partei-Hierarchie von ganz unten bis ganz oben.
Wer so häufig wie Xi Weisheiten zitiert, in denen es um das Gemeinwohl geht, muss damit rechnen, einmal daran gemessen zu werden. Und zwar vom eigenen Volk. Ein großes Land wie China kann man nicht auf Dauer mit Gewalt regieren. Auch autoritäre Herrschaft braucht eine Legitimierung. Vielleicht liegt in diesem Bewusstsein der tiefere Grund dafür, dass China die Corona-Pandemie so entschlossen und erfolgreich bekämpft hat. Eine Partei, die ihre Legitimität aus dem Gemeinwohl zieht, das sie paternalistisch vorgibt zu fördern, hätte diese vermutlich verloren, wenn die Pandemie in China so ungehindert hätte wüten dürfen wie in den verwahrlosten Demokratien von Amerika und Europa. In liberalen Demokratien schöpft eine Regierung ihre Legitimität nicht aus dem Gemeinwohl, das sie fördert, sondern aus der Mehrheit, die sie in Wahlen errungen hat. Und dabei ist ihr jedes Mittel der Wählerbeeinflussung recht. In liberalen Demokratien fehlt der Anreiz, das Gemeinwohl zu fördern; was zählt, sind die Stimmen an der Urne. Ein wenig demokratisches Spektakel auf der einen Seite und eine wohl organisierte Verantwortungsdiffusion auf der anderen Seite reichen völlig aus, um an der Macht zu bleiben und niemals zur Verantwortung gezogen zu werden. In dem China, das Xi zeichnet, ist noch etwas von dem Geist eines contrat social zwischen Herrschern und Beherrschten zu spüren. Die Partei darf führen, aber sie muss Frieden, Wohlstand und die öffentliche Ordnung sichern und existienzielle Bedrohungen wie die Corona-Pandemie schnell und endgültig ausschalten.
Ich finde es ferner bemerkenswert, dass sich die Partei bei der Führung dieses riesigen Landes auf Weisheiten beruft, die in kaiserlichen Verwaltungsbürokratien ihren Ursprung haben. Das ist keine Verklärung der Geschichte, sondern eine pragmatische Besinnung auf überlieferte Erkenntnisse. Die kaiserliche Bürokratie hat mehr als 2000 Jahre lang bewiesen, dass es möglich ist, ein so großes Reich zu führen; und dennoch ist sie von ausländischen Kräften in kürzester Zeit hinweggefegt und in der Revolution durch eine Kader-Bürokratie ersetzt worden, die der kaiserlichen schon immer ähnlicher sah, als es den Revolutionären lieb war. Um die Aktualität von 2000 Jahre alten Weisheiten zu unterstreichen, übersetzt sie Chen Hongyan in ein modernes Deutsch, dem jede dichterische Verklärung fehlt. Es erinnert vielmehr an das übliche Beamtendeutsch. Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Weisheiten nicht als schmückendes Beiwerk in Sonntagsreden oder zur oberflächlichen Verklärung einer grandiosen Geschichte dienen, sondern als eine immer wieder aktuell zu interpretierende Richtschnur für das praktische Handeln.
Das Buch stellt Xi als einen Staatsmann vor, der darum weiß, dass der »chinesische Traum« nur verwirklicht werden kann, wenn das Land, wenn Partei und Volk, von einem gemeinsamen Geist geleitet werden. Auf einen solchen Geist versucht er in seinen Reden die Parteifunktionäre einzuschwören. Ob dieser Geist mehr ist als ein fixe Idee und, im besten Hegelschen Sinne, mitten unter den Chinesen erscheint, muss dahingestellt bleiben.
Kommen wir zurück zum Buch. Es gibt einiges daran zu kritisieren. Ein gutes Schlusskorrektorat hätte ihm gutgetan. Dafür hätte der Verlag sorgen können. Die Zuordnung der Zitate zu den Themenfeldern, die der Autor in den Vordergrund stellt, erscheint oft etwas willkürlich und wenig motiviert. Das schematische Vorgehen innerhalb der einzelnen Kapitel macht das Buch nicht besonders lesefreundlich. In dem Literaturverzeichnis sind übersetzte Werke zwar gekennzeichnet, aber gesonderte Auflistung von englischsprachigen oder deutschen Ausgaben wäre hilfreich für weitere Studien.
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Hongyan, Chen/Plank, Andrea/Abila, Ena: Chinesische Weisheiten in Xi Jinpings Reden. Übers. v. Hongyan Chen. 2020. ↩︎