Gott ist tot

Eine Karfreitags-Meditation

Die Skandalisierung einer Person oder einer Sache beendet in der Regel das Nachdenken über Person und Sache, bevor es begonnen hat. Glücklicherweise ist dies im Falle des Philosophen Martin Heidegger anders. Zu seinem Fall hat nicht nur die historische Forschung einiges zusammengetragen, mit Adornos Schrift ›Jargon der Eigentlichkeit‹ haben wir auch eine erhellende Sprachkritik zur Hand, um gegen einige Besonderheiten des Heideggerschen Denkens wie gegen einen tödlichen Virus quasi geimpft zu sein.

In der Sammlung ›Holzwege‹ finden sich sechs Aufsätze, die Heidegger während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland schrieb. Es ist schwer, sie angesichts der Zeit, in der sie entstanden sind, nicht als eskapistisch zu bezeichnen. Während Horkheimer und Adorno im amerikanischen Exil die ›Dialektik der Aufklärung‹ verfassen, beschäftigt sich Heidegger mit dem Ursprung der Kunst, mit Hegels Begriff der Erfahrung, mit dem Dichter Hölderlin, mit einem vorsokratischen Philosophen aus dem siebten Jahrhundert vor Christus und mit Nietzsche. Mitten unter diesen heute seltsam anmutenden Werken zeichnet er mit dem Aufsatz ›Die Zeit des Weltbildes‹ aber auch die Blaupause für ›Die Ordnung der Dinge‹ des französischen Philosophen Michel Foucault.

In dem Aufsatz ›Nietzsches Wort »Gott ist tot«‹ von 1943 versucht Heidegger »dorthin zu weisen, von wo aus vielleicht eines Tages die Frage nach dem Wesen des Nihilismus gestellt werden kann.«1 Im Zentrum des Aufsatzes steht ein Stück aus Nietzsches Buch ›Die fröhliche Wissenschaft‹. In dem Stück mit dem Titel ›Der tolle Mensch‹ lässt Nietzsche einen Verrückten sprechen, der auf dem Markt unter die Menschen springt und ruft, dass er Gott suche. Doch Gott ist nicht auffindbar. »Wohin ist Gott?« lässt Nietzsche den Verrückten rufen: »Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?« Und als er bloß Verwunderung statt Bestürzung in den Menschen wecken kann, ruft er »Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!«2

Mit dem Wort Gott bezeichnet Nietzsche die übersinnliche Welt, den Bereich der Ideen und Ideale. »Das Wort ›Gott ist tot‹ bedeutet: die übersinnliche Welt ist ohne wirkende Kraft. Sie spendet kein Leben. Die Metaphysik, d.h. für Nietzsche die abendländische Philosophie als Platonismus verstanden, ist zu Ende. Nietzsche versteht seine eigene Philosophie als die Gegenbewegung gegen die Metaphysik, d.h. für ihn gegen den Platonismus.«3

Heidegger deutet den Nihilismus mit Nietzsche als geschichtliche Entwicklung, die das gesamte Abendland umspannt, und darauf ausgeht, die obersten Werte zu entwerten. Diese Bewegung setzt bereits bei Platon ein und kennzeichnet damit die abendländische Philosophie. Als Schatten der Aufklärung stürzt der Nihilismus den Menschen in eine Sinnkrise, da er die übersinnliche Welt, die der sinnlichen ihren Sinn gibt, abschafft. Der Nihilismus ist damit die Kehrseite der Selbstermächtigung des Subjekts, das die Welt im Zuge der Aufklärung als Objekt vergegenständlicht. Er eliminiert fortwährend die sinnstiftenden Instanzen, die sich an die Stelle setzen, die einst Gott besetzte.

»Wenn nämlich Gott im Sinne des christlichen Gottes aus seiner Stelle in der übersinnlichen Welt verschwunden ist, dann bleibt immer noch die Stelle selbst erhalten, obzwar als die leer gewordene.« (Vielleicht ist es die Stelle am Weltgebäude, von der herab der tote Christus seine Rede hält, dass kein Gott sei.) »Der leer gewordene Stellenbereich des Übersinnlichen und der idealen Welt kann noch festgehalten werden. Die leere Stelle fordert sogar dazu auf, sie neu zu besetzen und den daraus entschwundenen Gott durch anderes zu ersetzen. Neue Ideale werden aufgerichtet.« Bei Nietzsche sind dies die Weltbeglückungslehren, der Sozialismus und – Wagners Musik. Nietzsche kennzeichnet diese Bewegung als den unvollständigen Nihilismus, der ein Versuch sei, dem Nihilismus zu entgehen, ohne die bisherigen Werte umzuwerten. Das völlig selbstermächtigte Subjekt jedoch, so Heidegger/Nietzsche ist gekennzeichnet durch den Willen zur Macht. Das Seiende ist damit als Seiendes immer schon gerechtfertigt, im Jargon Heideggers recht gefertigt.

Horkheimer und Adorno deuten die gegenseitige Bedingung von Aufklärung und Nihilismus als dialektische Bewegung innerhalb der Aufklärung, was ihnen und uns letztlich den Übermenschen erspart. Denn dieser Übermensch ist der Vollender des Nihilismus und Erbe des Menschen, der in der ewigen Wiederkehr des unvollständigen Nihilismus gefangen ist. Während der Mensch dazu verdammt ist, immer wieder die leere Stelle Gottes mit neuen Ideologien zu besetzen oder in der Dialektik der Aufklärung Freiheit immer wieder in Unterdrückung zu verwandeln, ist der Übermensch diesem Kreislauf entronnen. Er setzt Sein aus der Fülle seiner Vollmacht.

»Das Schaffen von Möglichkeiten des Willens, aus denen sich der Wille zur Macht erst zu sich selbst befreit, ist für Nietzsche das Wesen der Kunst. Diesem metaphysischen Begriff entsprechend, denkt Nietzsche unter dem Titel Kunst nicht nur und nicht einmal zuerst an den ästhetischen Bereich der Künstler. Kunst ist das Wesen alles Wollen, das Perspektiven eröffnet und sie besetzt: ›Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z.B. als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Die Welt als eine sich selbst gebärende Kunst – –‹ (W. z. M. A. 796. a.d.J. 1885(86))«4

Mit diesem Zitat aus dem posthum von Nietzsches Schwester kompilierten Werk ›Der Wille zur Macht‹ lässt sich eine verführerische Traditionslinie von Nietzsche über Rudolf Steiner, der im Nietzsche-Archiv arbeitete, bis hin zu Joseph Beuys ziehen, dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Kunst ohne Künstler ist Kunst, die vom sozialen Künstler geschaffen wurde, die soziale Skulptur.

Die Deutung des Übermenschen als sozialen Künstlers befreit einerseits die Kreativität, sie stürzt aber andererseits das Zeitalter des vollendeten Nihilismus jedoch in den Abgrund der Beliebigkeit oder der Sinnlosigkeit, an dessen Rand der alte Mensch sein Leben lang lebte. Der vollendete Nihilismus ist gleichzeitig die vollendete Subjektivität, die – so Heidegger/Nietzsche im Wesen des Willens zum Vorschein kommt. »Die neuzeitliche Metaphysik denkt als die Metaphysik der Subjektivität das Sein des Seienden im Sinne des Willens«5, schreibt Heidegger und er fährt fort:

»Zur Subjektivität gehört als die erste Wesensbestimmung, daß das vorstellende Subjekt seiner selbst und d.h. stets auch seines Vorgestellten als eines solchen sich versichert. Gemäß solcher Versicherung hat die Wahrheit des Seienden als die Gewißheit den Charakter der Sicherheit (certitudo). Das Sich-selbst-wissen, worin die Gewißheit als solche ist, bleibt seinerseits eine Abart des bisherigen Wesens der Wahrheit, nämlich der Richtigkeit (rectitudo) des Vorstellens. Aber das Richtige besteht jetzt nicht mehr in der Angleichung an ein in seiner Anwesenheit ungedachtes Anwesendes. Die Richtigkeit besteht jetzt in der Einrichtung alles Vorzustellenden auf das Richtmaß, das im Wissensanspruch der vorstellenden res cogitans sive mens gesetzt ist. Dieser Anspruch geht auf die Sicherheit, die darin besteht, daß alles Vorzustellende und das Vorstellen in die Klarheit und Deutlichkeit der mathematischen idea zusammengetrieben und dort versammelt werden. Das ens ist das ens co-agitatum perceptionis. Das Vorstellen ist jetzt richtig, wenn es diesem Anspruch auf Sicherheit gerecht wird. Dergestalt als richtig ausgewiesen, ist es als recht gefertigt und verfügbar, gerecht-fertigt. Die Wahrheit des Seienden im Sinne der Selbst-Gewißheit der Subjektivität ist als die Sicherheit (certitudo) im Grunde des Recht-fertigen des Vorstellens und seines Vorgestellten vor der ihm eigenen Helle.« Hier kündigt sich bereits Foucaults Archäologie der Humanwissenschaften an.6

Das hat schwerwiegende Auswirkungen.

»Alles Seiende ist jetzt entweder das Wirkliche als der Gegenstand oder das Wirkende als die Vergegenständlichung, in der sich die Gegenständlichkeit des Gegenstandes bildet. Die Vergegenständlichung stellt vor-stellend den Gegenstand auf das ego cogito zu. In diesem Zustellen erweist sich das ego als das, was seinem eigenen Tun (dem vor-stellenden Zu-stellen) zugrunde liegt, d.h. als subiectum. (…) Alles Seiende ist darum entweder Objekt des Subjekts oder Subjekt des Subjekts. (…) Der Mensch steht innerhalb der Subjektivität des Seienden in die Subjektivität seines Wesens auf. Der Mensch tritt in den Aufstand. Die Welt wird zum Gegenstand. In dieser aufständischen Vergegenständlichung alles Seienden rückt das, was zuerst in die Verfügung des Vor- und Her-stellens gebracht werden muß, die Erde, in die Mitte des menschlichen Setzens und Auseinandersetzens. Die Erde selbst kann sich nur noch als der Gegenstand des Angriffes zeigen, der sich als die unbedingte Vergegenständlichung im Wollen des Menschen einrichtet. Die Natur erscheint überall, weil aus dem Wesen des Seins gewillt, als der Gegenstand der Technik.«7

Wenn alles Seiende entweder Wirkliches als Gegenstand oder Wirkendes als Vergegenständlichung ist, verliert der Mensch seine Welt und wird weltlos. Als Gegenentwurf zu dieser anthropozentrischen Seinsweise des Menschen entwickelt Heidegger später den Gedanken des Gevierts und des Wohnens.8 Ob der späte Heidegger uns etwas zu sagen hat, ist keine Frage für philosophische Seminare. Denn dem metaphysischen Verlust der Welt folgt der physische. Die Vergegenständlichung der Welt führt unweigerlich zu ihrer Zerstörung. Die Frage, ob aus der abendländischen Philosophie, deren tödliches Wesen sich in der Technik offenbart, überhaupt Hilfe zu erwarten ist, muss hier offen bleiben. Wer aber glaubt, den Klimawandel mit Hilfe der Technik vermeiden zu können, drückt sich um die Besinnung herum und ist dazu verurteilt, Gott immer wieder zu töten.


  1. Heidegger, Martin: Nietzsches Wort »Gott ist tot« (1943). In: Holzwege. 9. Aufl. Frankfurt (am Main) 2015. S. 209–265, S. 209 ↩︎

  2. ebd. S. 215f ↩︎

  3. ebd. S. 217 ↩︎

  4. ebd. S. 241 ↩︎

  5. ebd. S. 243f ↩︎

  6. Der Untertitel von Foucaults Werk ›Die Ordnung der Dinge‹ lautet ›Eine Archäologie der Humanwissenschaften‹. ↩︎

  7. Heidegger: S. 255f ↩︎

  8. »Heideggers Konstellation der Welt als Geviert wird als Gegenentwurf zu der von ihm konstatierten Heimatlosigkeit und Seinsverlassenheit des modernen Menschen gesehen. Der moderne Mensch setze sich selbst ins Zentrum alles Seienden und erschließe durch seine planend-berechnende Subjektivität alles ihn Umgebende nur im Hinblick auf die Verwertbarkeit als Rohstoff oder Energiequelle. Damit beraubt er sich selbst seiner Welt, als einer sinnhaften Totalität, welche auch solche Beziehungen in sich birgt, deren Verweisungskette nicht in das Um-willen des Menschen mündet. Dies versagt letztlich dem Menschen das Wohnen und macht ihn heimatlos.« (https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Heidegger#Geviert↩︎