Marginalisierte Gefühle
»Wenn ich jetzt da reingucke, finde ich garantiert den Fehler«, sagte mein ehemaliger Chef immer, wenn aus der Druckerei die Belegexemplare einer Broschüre eintrafen, die wir in unserer Agentur erstellt hatten. Obwohl er selbst, seine Sekretärin mit den Argusaugen und meine Wenigkeit alle Texte mehrmals Korrektur gelesen hatten, wollte es der Zufall, dass mein Chef beim ersten Blättern in den gedruckten Exemplaren mit schlafwandlerischer Sicherheit den einzigen Fehler fand, den wir alle übersehen hatten. Ich fühlte mich in dieser Agentur sehr wohl und mochte meinen Chef. In dem, was viele Menschen Pingeligkeit nennen würden, erkannte ich die aufrichtige Achtung der Sprache und des Lesers. Wir hatten das gleiche ausgeprägte Sprachgefühl und schämten uns, wenn wir ein fehlendes Komma zu spät entdeckt hatten.
Menschen mit einer gesteigerten Sensibilität für alles Sprachliche schreiben nicht automatisch fehlerfrei. Wenn ich heute Texte aus meinem Studium lese, springt mich diese Tatsache aus ihren sprachlichen Mängeln geradezu an. Ich habe erst spät, als professioneller Texter, gelernt, nahezu fehlerfreie Texte abzuliefern. Dem Senior-Texter, dem ich während meines Volontariats in einer Kölner Werbeagentur unterstellt war, verdanke ich das dafür notwendige Arbeitsethos. »Komm Jung, beißen!« war einer seiner Lieblingsausdrücke, mit dem er mich dazu anhielt, nicht die erstbeste Formulierung stehen zu lassen. Beißen muss jedoch nicht nur der Kreative, sondern auch der Korrektor, denn es bedarf unablässiger Hartnäckigkeit, einen Text so lange zu polieren, bis Orthografie, Interpunktion und Grammatik stimmen.
Die Anlagen im Menschen, aus denen sich eine gesteigerte Sprachsensibilität entwickeln kann, sind vermutlich angeboren. Die Fähigkeit, fehlerfrei zu schreiben, muss man jedoch mühsam erwerben. Und im Verlauf dieses Lernprozesses kommt die angeborene Sprachsensibilität immer ausgeprägter zum Vorschein. Je mehr man sich mit der Sprache auseinander setzt, um so sensibler wird man. Und irgendwann wird den sprachsensiblen Menschen jeder Text mit stilistischen Schlaglöchern und sprachlichen Stolpersteinen zur Qual.
Fehler sind menschlich. Mit der Zeit lernt man mit ihnen zu leben, obwohl man sie nicht übersehen kann – weder in einem sorgfältig editierten Buch noch in einer schnell hingeschriebenen E-Mail. Wirklich übel wird es jedoch, wenn Menschen absichtlich Stolpersteine in einen Text einbauen, wie es beim Gendern der Fall ist. Tippfehler empfinden sprachsensible Menschen wie ein unabsichtliches Anrempeln in einem überfüllten Bus: unangenehm, aber nicht weiter schlimm. Die Binnen-Is, Gendersternchen, Genderpünktchen und Genderstriche fühlen sich dagegen an wie Ohrfeigen. Es sind Mikroaggressionen, die das Sprachgefühl sprachsensibler Menschen verletzen. Und sie sind auch so gemeint, denn sie sollen uns beim Lesen aller Texte daran erinnern, dass es zwei Geschlechter gibt.1
Natürlich weiß ich, dass der Gendergerechte niemals bewusst Gewalt anwenden würde, und erst recht nicht gegen eine marginalisierte Gruppe, selbst dann, wenn es sich nur um sprachsensible Menschen handelt. Mikroaggressionen haben den Charakter, dass sie unabsichtlich geschehen aufgrund fehlender Empathie für die Gefühle der marginalisierten Gruppe. Wer gendert, hegt selbstverständlich Absichten, die über jeden Zweifel erhaben sind. Allein es fehlt dem Gendergerechten wie dem privilegierten Weißen an Einfühlungsvermögen; wie dem Weißen die dunkle Hautfarbe fehlt ihm das Sprachgefühl, weshalb er sprachsensible Menschen genauso absichtlich unabsichtlich vor den Kopf stößt wie der privilegierte Weiße, der einen ›Negerkuss‹ bestellt.
Wer sich in der Geschichte umschaut, weiß, dass der Fortschritt nicht mit Rücksicht und Einfühlungsvermögen, sondern mit der Guillotine erreicht wird. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wer eine gendergerechte Welt erschaffen will, hat den Mantel der Geschichte ergriffen und den Segen der Zukunft. Für den Fortschritt gilt es Opfer zu bringen. Natürlich von anderen, denn da es dem Gendergerechten an Sprachsensibilität mangelt, bleibt ihm beim geschlechtergerechten Annotieren jedes Opfer erspart.
Ob sprachsensible Menschen eine Minderheit sind, kann ich nicht beurteilen. Marginalisiert sind sie allemal. Denn Sprachsensibilität gehört nicht zu den Eigenschaften, auf die Läuterungsentrepreneure2 im sozialen Umgang Rücksicht nehmen. Sich für sprachsensible Menschen einzusetzen, bringt dem Läuterungsentrepreneur keinen Gewinn. Schließlich stehen diese Sensibelchen unter dem Verdacht, dem gesellschaftlichen Fortschritt im Wege zu stehen. Daher kann der Gendergerechte über ihre Gefühle auch nassforsch hinweggehen. Und gerne lässt er seinen Mikroagressionen auch schon einmal eine witzig-pubertäre Makroaggression folgen.3 Sprachsensible Menschen sind diese Rücksichtslosigkeit gewohnt. Bereits in der Schule war ihren Mitschüler ihr empfindliches Sprachgefühl bestenfalls egal.4
Ich bin gerne bereit, für die Errichtung der besten aller Welten so manches Opfer zu bringen. Und mir wäre schon geholfen, wenn die Gendergerechten anerkennen würden, dass es sprachsensible Menschen gibt, deren Sprachgefühl durch die eingestreuten Genderzeichen verletzt wird und das dies nichts damit zu tun hat, dass sie weiß und männlich sind. Die Erfahrung zeigt aber, dass wir darauf nicht hoffen dürfen.
Glücklicherweise bleibt uns wenigstens im Internet als letzter Ausweg die digitale Selbstverteidigung. Ein Browser-Add-on entfernt die Genderzeichen von einer Webseite ebenso zuverlässig wie ein AdBlocker die Tracker der Überwachungsindustrie. Holt euch das Add-on! Vielleicht ist es bald schon – unter dem Vorwand das Urheberrecht schützen zu müssen – verboten.
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Wer Arno Schmidt gelesen hat, erinnert sich bei jedem Genderzeichen sofort an seine Theorie der Organabbildung in literarischen Texten. Da kann man dann nicht umhin, die Genderzeichen als Binnen-Phalli, Doppel-Tittchen und Sternmöschen zu lesen. Vielleicht kommt in gendergerechter Sprache ja sogar Verdrängtes zum Vorschein. ↩︎
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Der Begriff stammt von der Migrationsforscherin Sandra Kostner, die in ihrem Buch Identitätslinke Läuterungsagenda ein fruchtbares Analysemodell entwickelt, mit dem sie das Elend der Linken überzeugend erklären kann. Sie schreibt: »Den Begriff der Läuterungsagenda verwende ich, da Vertreter der Schuldseite – ich bezeichne sie als Schuldentrepreneure – danach streben, durch Läuterungsdemonstrationen die moralische Autorität für ›ihre Gruppe‹ und damit für sich selbst wiederzugewinnen, welche sie aus ihrer Sicht wegen der von Mitgliedern ›ihrer Gruppe‹ verübten Ungleichbehandlungen verloren haben. Ihrem Pendant auf der Opferseite – die ich Opferentrepreneure nenne – geht es neben der materiellen auch um eine moralische Kompensation für erlittenes Unrecht. Das Einfordern von moralischen Läuterungsdemonstrationen wurde daher schnell zum Kernbestandteil der Agenda der Opferentrepreneure, zumal sie den selbstauferlegten Läuterungsdruck der Schuldentrepreneure als für ihre Belange nützlich erkannten. Das Motiv der Läuterung führt demnach dazu, dass Identitätslinke auf der Opfer- und Schuldseite symbiotisch miteinander verbunden sind und aus Eigeninteresse die Aufrechterhaltung von Opfer- und Schuldidentitäten fördern – denn nur solange diese bestehen, funktioniert ihre Agenda." ↩︎
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Sprach- und Schamgefühl scheinen innig verwandt zu sein. ↩︎
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Vgl. hierzu ›Der böse Kamerad‹ aus Adornos Minima Moralia. ↩︎