Was tun?
Die Linke muss zurück an die ökonomische Basis!
Soziale Bewegungen aus dem linksliberalen Spektrum, im Folgenden heuristisch als die Linke bezeichnet, traten im 20. Jahrhundert die Nachfolge protestantischer Sekten an. Wie früher den religiösen Sektierern ist heute bürgerlichen Idealisten ein gutes Gewissen wichtiger als politische Macht. Die Verachtung weltlicher Macht hat im Christentum eine lange Tradition, die sich auf den Religionsstifter selbst berufen kann. Wenn aber die materialistische Linke, die ursprünglich sogar mit revolutionärer Gewalt an die Macht drängte, diese zu verachten scheint, muss man besorgt sein.
Gruppendynamische Parallelen zwischen religiösen Sekten und dem linken Spektrum sind kaum zu übersehen. Die Bestätigung ein guter Christ im Sinne der jeweiligen Sekte zu sein, erhält der Gläubige ebenso von Seinesgleichen wie der Linke die Bestätigung dafür, ein guter Linker zu sein. Und wie die christlichen Sekten sind auch die linken Bewegungen untereinander umso zerstrittener je ähnlicher sie sich sind. Die daraus resultierende politische Bedeutungslosigkeit kompensieren Linke wie christliche Sekten durch eine immer stärkere Gewissenserforschung, die im Falle der Linken noch in den feinsten Verästelungen der Sprache rassistische oder sexistische Vorurteile ausmacht, die einer besseren Welt im Wege stehen. Der Kampf um die politische Macht wurde zugunsten eines missionarischen Eifers aufgegeben, der christlichen Sekten alle Ehre machen würde. Der politische Gegner hat die Schwäche der Linken instinktiv erkannt und kommentiert sie hämisch mit dem Spottbegriff des Gutmenschen.
Die Linke ist hinter Marx zurückgefallen. Sie verdrängt die Dialektik von Basis und Überbau und glaubt, durch eine Läuterung des Einzelnen den ideologischen Überbau so zu manipulieren, dass sich die gesellschaftliche Wirklichkeit verändert. Die Linke befindet sich damit ganz im Rahmen der herrschenden neoliberalen Ideologie, in der das einzelne Individuum die Triebfeder des Fortschritts ist und anonyme Marktkräfte darüber entscheiden, was Fortschritt ist. Der Neoliberalismus belastet den Einzelnen mit der Verantwortung für seinen persönlichen wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg. Die sozialen Bewegungen des linken Spektrums haben diese Ideologie verinnerlicht. Gesellschaftlich relevantes Veränderungspotenzial soll nicht durch Klassenkampf, sondern durch Addition atomarer Subjekte erfolgen. Die Linke glaubt an die Macht des Verbrauchers, die auf wundersame Weise fähig sei, das Verhalten der Konzerne zum Besseren zu verändern. Die Strategie ist zum Scheitern verurteilt, weil sie die ökonomische Fundierung menschlichen Verhaltens leugnet. Doch anstatt die Strategie zu verändern, intensiviert die Linke sie noch. Mit der gleichen Inbrunst, mit der christliche Sekten sich und anderen die Qualen der Hölle ausmalen, um zu bekehren, schildern soziale Bewegungen die Qualen derjenigen, deren politische Vertretung sie beanspruchen. Sie übersehen dabei, dass Aufklärung niemals unvermittelt zu einer besseren Welt führt. Mit ihrer Fixierung auf den Überbau kompensiert die Linke ihre selbstverschuldete Unfähigkeit, die ökonomischen Verhältnisse ändern zu können.
Der Neoliberalismus strickt seit den 80er Jahren an dem Narrativ, dass der Sozialismus gescheitert sei. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten in Osteuropa, dessen Erschütterungen bis heute nachwirken, verlieh diesem Narrativ so viel Glaubwürdigkeit, dass auch die Linke an ihm mitschrieb. Was die Linke übersah, war die Tatsache, dass ein Volk von 1,3 Milliarden Menschen unbeirrt am Sozialismus festhält und im Gegensatz zur Sowjetunion und den sozialistischen Staaten in Europa die ökonomischen Gesellschaftsverhältnisse kontinuierlich entwickelt. Seit dem von Deng Xiaoping eingeleiteten Reformprozess Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts steigert die Volksrepublik China kontinuierlich seine Wirtschaftskraft. China ist heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Dass die Reformen Dengs auf diesem Weg mehrfach vertieft oder korrigiert wurden, zeigt, dass die nachfolgenden Führungsgenerationen der kommunistischen Partei ganz im Sinne Dengs die Wahrheit in den Tatsachen gesucht haben.
Hier soll nicht darüber spekuliert werden, warum in China gelang, was in vielen anderen Ländern misslang. Nur eins wollen wir festhalten. Wenn es der kommunistischen Partei Chinas nicht gelungen wäre, die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen China und den kapitalistischen Ländern in siebzig Jahren nahezu umzukehren, hätte sie das gleiche Schicksal ereilt wie ihre Schwesterparteien in Europa. Stattdessen besitzt sie bis heute die führende Rolle im Staat und ist in der Lage, das Land zu gestalten.
Die Linke im Westen wird auf absehbare Zeit keine führende Rolle im Staat übernehmen. Wenn sie Gestaltungsmacht will, muss sie andere Wege suchen als die politische Machtübernahme im Staat. Das wird schwierig werden. Der sektenhafte Rückzug auf den Überbau hat nicht nur die subjektive Zerstrittenheit der Linken zur Folge. Die Konzentration auf den Überbau macht die sozialen Bewegungen auch objektiv zu Konkurrenten, da sie im neoliberalen Kapitalismus um die wertvollste Ressource der Überbauproduktion ringen: die Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeitsökonomie lässt die objektiven Ziele der sozialen Bewegungen mehr und mehr in den Hintergrund treten. Jüngstes Beispiel ist die Letzte Generation, deren Aktionen Diskussionen auslösen, in denen der Klimaschutz kaum eine Rolle spielt.
Fortschritte im Klimaschutz werden von ganz anderer Seite durch eine Veränderung der ökonomischen Basis bewirkt, die eine klimafreundlichere Energieerzeugung auf breiter Basis möglich macht. So hat der Preisverfall bei Solarmodulen, ausgelöst durch die chinesische Massenproduktion, dazu geführt, dass sich mehr Menschen die Installation einer Solaranlage leisten können. Kurzsichtige, wenn nicht gar korrupte Regierungen haben leider die einst hoffnungsvolle deutsche Solarindustrie zerstört, bevor sie von dem Solarboom profitieren konnte. Das Geschäft mit der Solarenergie macht die Volksrepublik China, die frühzeitig die Bedeutung der Photovoltaik für die weltweite Energieversorgung erkannte und zielstrebig große Produktionskapazitäten aufbaute.
Die Fixierung des politischen Mainstreams auf die Globalisierung hat in Deutschland zu einer Deindustrialisierung geführt, die nur noch – wie im Falle der Intel-Fabrik – durch die massive Subventionierung ausländischer Firmen kompensiert werden kann. Es ist absehbar, dass Deutschland in Zukunft noch abhängiger von ausländischen Investoren und Lieferketten wird. Außerdem wird die Schere zwischen Arm und Reich sich weiter öffnen, da der Neoliberalismus nicht in der Lage ist, Wirtschaftswachstum gesellschaftlich in positiver Weise nutzbar zu machen. Wenn in einer Situation, in der breite Teile der Bevölkerung verarmen und drastische Wohlstandseinbußen hinnehmen müssen, auch noch die Linke sich mit Überbau-Diskussionen verzettelt, ist dem rechten Populismus Tür und Tor geöffnet.
Angesichts der Tatsache, dass die Linke auf absehbare Zeit politisch machtlos bleiben wird, sollte sie sich folgende Frage stellen: Wie können Akteure ohne politische Macht die ökonomischen Gesellschaftsverhältnisse so verändern, dass die breite Mehrheit der Bevölkerung davon profitiert? Wenn der Staat aufgrund seiner neoliberalen Struktur nicht in der Lage ist, gesellschaftliche Fortschritte zu erzielen, muss die Gesellschaft sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf des neoliberalen Krisenkapitalismus ziehen. Die Gesellschaft muss selbst zu einem ökonomischen Akteur werden und die Konsumentenrolle hinter sich lassen. So abstrakt das Ziel auch klingen mag, die konkreten Werkzeuge, die nötig sind, um es zu erreichen, liegen bereit: kooperatives Wirtschaften und genossenschaftliches Unternehmertum. Genossenschaften sind demokratisch organisierte kollektive Wirtschaftssubjekte, die in der Lage sind, ökonomische Gesellschaftsverhältnisse nachhaltig zu verändern.
So bilden beispielsweise genossenschaftliche Windparkbetreiber Gemeineigentum an modernen Produktionsmitteln, von dem auch die Genossinnen und Genossen profitieren, die neben dem Windpark wohnen. Von Widerstand gegen Windräder ist dort wenig zu spüren. Wo aber fremde Investoren profitieren, während sich die örtliche Bevölkerung mit den Windrädern arrangieren muss, bricht der Widerstand gegen diese trotz der bereits überall spürbaren Klimakatastrophe nicht in sich zusammen. Viele weitere Genossenschaften mit anderen Schwerpunkten schaffen ebenfalls Gemeineigentum an technischer Infrastruktur. Bau- und Wohnungsgenossenschaften überführen Grund und Boden in Gemeineigentum und schaffen bezahlbaren Wohnraum. Produktionsgenossenschaften sind Unternehmen in der Hand ihrer Arbeiter und Angestellten oder sie bilden für Selbstständige einen kollektiven Arbeitsrahmen. Und Kreditgenossenschaften vergesellschaften das Finanzwesen.
Die Frage ›Was tun?‹ beantwortet sich im Grunde von selbst. Die Linke sollte sich darauf konzentrieren, die ökonomische Basis durch Gründung und Unterstützung von Genossenschaften zu verändern, anstatt sich an Überbauphänomenen abzuarbeiten. Der genossenschaftliche Weg zur Bildung von gesellschaftlichem Gemeineigentum hat eine lange Geschichte. In Deutschland schlug man ihn bereits im 19. Jahrhundert ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man, ihn über Revolutionen abkürzen zu können. Der revolutionäre Weg erwies sich aber – wenigstens in Europa – als Irrweg, der ungeheure Opfer kostete.
Der genossenschaftliche Weg führt nicht nur sicher zum Ziel, er ist das Ziel. Er macht aus Objekten der kapitalistischen Gewinnmaximierung wirtschaftliche Subjekte mit eigenen Produktionsmitteln und gemeineigenen Produktivressourcen. Genossenschaften bilden Gemeineigentum an Produktionsmitteln, das kollektiv verwaltet wird, und damit zumindest teilweise dem kapitalistischen Verwertungssystem entzogen wird.
Die Risiken des genossenschaftlichen Weges sind im Vergleich zum revolutionären gering. Sie reduzieren sich auf das finanzielle Risiko, das ein Unternehmen eingeht, wenn es wirtschaftlich tätig wird. Ein genossenschaftliches Unternehmen kann, wie jedes andere Unternehmen auch, scheitern. Hat es jedoch Erfolg, kommt der Gewinn allen Genossinnen und Genossen zugute. Der wahre Gewinn ist dabei größer und tiefgehender als eine lapidare Kapitalrendite, die eine Genossenschaft an ihre Mitglieder und Anteilseigner auszahlen kann. Genossenschaften bilden demokratisch verwaltetes Gemeineigentum an wirtschaftlichen Ressourcen. Sie akkumulieren Gemeineigentum. Genossenschaften verschaffen ihren Mitgliedern damit die Gestaltungsmacht, die notwendig ist, um die ökonomische Basis ihres Lebens nachhaltig zu verändern. Sie akkumulieren, zunächst innerhalb des eigenen Kollektivs, ein Selbstermächtigungs-Know-how, das eine sich positiv verstärkende Dialektik von Basis und Überbau in Gang setzt und damit die Gesellschaft von Grund auf transformiert.