Xi lesen

Vor knapp drei Jahren habe ich im Sudelbuch das erste Mal Texte von Xi Jinping besprochen. Der Anlass war eine unterirdische Kritik des Buches »Chinesische Weisheiten in Xi Jinpings Reden« in der NZZ. Seitdem musste ich mich immer wieder über die holzschnittartige Berichterstattung in deutschen Medien ärgern, die scheinbar nur noch eine Agenda verfolgt: China und Präsident Xi Jinping zu dämonisieren. Während der Corona-Pandemie wies ich in dem Artikel Zeitenwende darauf hin, dass diese ideologische Verblendung des Westens nicht nur dumm, sondern auch gefährlich ist.

Es ist nicht einfach, gute Informationen über das Reich der Mitte zu bekommen. Wir haben die Bücher des Volkswirtschaftlers Wolfram Elsner, der sich jedoch – wenigstens in »China und der Westen« – lieber am Westen abarbeitet als uns China zu erklären. Wirtschaftliche Einblicke bietet das Mercator Institute for China Studies, ein neoliberaler Thinktank, der aber immerhin Zahlen liefert.

Deshalb habe ich mich zu den Quellen aufgemacht und kaufte kurzentschlossen eine dreibändige Ausgabe mit Reden von Xi Jinping mit dem Titel »China regieren«.

Der Sozialismus chinesischer Prägung

Am 15. November 2012 wurde Xi Jinping auf dem 18. Parteitag der KP Chinas in das Zentralkomitee der Partei und zum Generalsekretär gewählt. Mit diesem Datum beginnt auch die Sammlung seiner Reden. Die erste hielt Xi Jinping unmittelbar nach seiner Wahl vor ausländischen Journalisten. Sie trägt im Buch den Titel »Der Wunsch des Volkes nach einem schönen Leben als Ziel unserer Arbeit« und befindet sich im ersten Kapitel.

Das erste Kapitel lautet Der Sozialismus chinesischer Prägung und enthält vier Reden. Die interessanteste trägt den Titel »Den Geist des XVIII. Parteitags der KP Chinas studieren, verbreiten und umsetzen«. Xi hielt sie beim 1. Kollektiven Lernen des Politbüros des XVIII. ZK der KP Chinas. Über das Kollektive Lernen des Politbüros konnte ich im Netz nichts in Erfahrung bringen. Aus der Abfolge der Reden in dem Buch schließe ich, dass sich das oberste Führungsgremium Chinas jeden Monat zusammensetzt, um gemeinsam zu lernen. Worin dieses gemeinsame Lernen besteht, geht aus der Rede hervor. Das kollektive Lernen des Politbüros ist eine Art kritische Selbstrevision des obersten Führungsgremiums.

»Nur wenn wir das großartige Banner des chinesischen Sozialismus hochhalten, können wir die ganze Partei und alle Volksgruppen des Landes geschlossen anführen, zum hundertjährigen Bestehen der KP Chinas umfassend eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand vollenden, zum hundertjährigen Bestehen der Volksrepublik China ein wohlhabendes, mächtiges, demokratisches, zivilisiertes und harmonisches modernes sozialistisches Land errichten und für das chinesische Volk mit all seinen Volksgruppen eine glücklichere und schönere Zukunft schaffen.«1

Diese auf den ersten Blick formelhaft wirkenden Worte sind ernst gemeint, denn der Gedanke zieht sich durch die weiteren Reden wie ein roter Faden. Zum 100-jährigen Jubiläum der Partei im Juli 2021 soll sich China in eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand verwandelt haben. Und Mitte des Jahrhunderts soll die Volksrepublik China ein wohlhabendes, mächtiges, demokratisches, zivilisiertes und harmonisches modernes sozialistisches Land geworden sein. Dies sind die Ziele, die sich die Partei gestellt hat.

Für den westlichen Beobachter ist eine solche Perspektive atemberaubend. Während der Planungshorizont vieler westlicher Politiker gerade einmal bis zur nächsten Talkshow reicht, rechnet die kommunistische Partei Chinas in Jahrzehnten. Die Parteitage der KP sind wichtige Meilensteine auf dem Weg Chinas in eine bessere Zukunft. Auf ihnen wird der Rahmen für die Politik der nächsten Jahre abgesteckt. Den Geist eines Parteitags zu studieren, zu verbreiten und umzusetzen bedeutet in unserer Sprache, allgemeine Ziele konkret herunterzubrechen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in der ganzen Gesellschaft zu verbreiten und schließlich politisch umzusetzen. Im Westen kennen wir solche langfristigen Zeithorizonte aus internationalen Abkommen wie dem Übereinkommen von Paris.

Worin aber besteht nun der Geist des XVIII Parteitags? Xi empfiehlt seinen Politbüro-Kollegen folgendes:

»1. Wir müssen ein tiefes Verständnis dafür entwickeln, dass der chinesische Sozialismus eine wesentliche Errungenschaft aus der langjährigen Praxis der Partei und des Volks ist.«2

Xi bezeichnet den chinesischen Sozialismus als eine Errungenschaft, die von mehreren Generationen der zentraler Führungsmannschaften durch die geschlossene Führung der ganzen Partei und des gesamten Volks unter größter Mühsal und mit allen erdenklichen Opfern bei generationsübergreifenden Forschungsanstrengungen gewonnen wurde.«3

Xi entwirft ein spezifisches Geschichtsverständnis. China war für mehrere Tausend Jahre eine kulturell und wirtschaftlich hochentwickelte Zivilisation, die die Geschichte der Menschheit geprägt hat. Im 19. Jahrhundert verfiel das Reich und wurde schließlich zur Beute von ausländischen Kolonialmächten. Dann übernahm die KP Chinas die Macht. Im Jahr 1949 wurde die Volksrepublik China gegründet. Xi zählt drei Führungsgenerationen auf, die China auf den Weg geführt haben, der bis zum Jahr 2049 China in ein wohlhabendes, mächtiges, demokratisches, zivilisiertes und harmonisches modernes sozialistisches Land verwandeln soll: die Führungsmannschaften um Mao Zedong, Deng Xiaoping und Jiang Zemin bzw. Hu Jintao. Das sozialistische Banner, das man ständig hochhalten müsse, bekommt damit neben der ideologischen Fundierung eine historische. Xi spricht auch oft davon, dass der Sozialismus in China Wurzeln geschlagen habe.

Der für unsere Ohren ungewöhnliche Ausdruck Forschungsanstrengungen wird von Xi regelmäßig benutzt. Was damit gemeint ist, wird im Folgenden deutlicher. Er besagt einerseits, dass der Weg zum Ziel keineswegs vorgezeichnet ist und bloß noch umgesetzt werden müsse. Der Weg wird aber andererseits keineswegs blind vorwärtsstolpernd gesucht, sondern auf wissenschaftliche Art und Weise ermittelt.

»2. Wir müssen ein tiefes Verständnis dafür entwickeln, dass dieser Weg, diese Theorie und dieses System die drei Dimensionen ein und desselben Sozialismus chinesischer Prägung darstellen.«4

Damit ist der enge Zusammenhang von Praxis, Theorie und System im Sozialismus chinesischer Prägung gemeint. »Einerseits werden Erfolge in der Praxis zur Theorie erhoben, andererseits dienen richtige Theorien zur Steuerung der neuen Praxis. Außerdem werden politische Richtlinien, die sich in der Praxis bewährt haben, rechtzeitig in das Partei- und Staatssystem inkorporiert.«5

Auch dieses dialektische Verhältnis zwischen Praxis, Theorie und System erhält durch Xi eine historische Dimension, indem er die wesentlichen Meilensteine auf dem Weg des Sozialismus chinesischer Prägung immer wieder aufzählt: der Marxismus-Leninismus, die Mao-Zedong Ideen, die Deng-Xiaoping-Theorie, die Ideen der Drei Vertretungen und das Wissenschaftliche Entwicklungskonzept. Die Ideen der Drei Vertretungen bedeuten, dass die KP Chinas stets die Erfordernisse der Entwicklung fortschrittlicher Produktivkräfte, die Richtung des Vorwärtsschreitens fortschrittlicher Kultur und die grundlegenden Interessen der überwiegenden Mehrheit des chinesischen Volkes vertreten muss. Man könnte dies mit wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Fortschritt umschreiben. Unter dem Wissenschaftlichen Entwicklungskonzept versteht die KP Chinas folgendes: »sein Kern ist der Mensch als Grundlage aller Dinge, seine grundlegende Forderung ist ein umfassendes, koordiniertes und nachhaltiges Vorgehen und seine wesentliche Methode ist einheitliche Planung unter Berücksichtigung aller Faktoren.«6

»3. Wir müssen ein tiefes Verständnis für den Hauptbezug, den Hauptentwurf und die Hauptaufgabe für den Aufbau des chinesischen Sozialismus entwickeln.«7

Auch diese Forderung führt Xi weiter aus. »Der XVIII. Parteitag hat betont, dass der Hauptbezug für den Aufbau des chinesischen Sozialismus das Anfangsstadium des Sozialismus darstelle, sein Hauptentwurf sei die Integration der fünf Dimensionen und seine Hauptaufgabe die Verwirklichung der sozialistischen Modernisierung sowie die große Renaissance der chinesischen Nation.«8

Das Anfangsstadium des Sozialismus ist das Stadium, in dem China den unterentwickelten Zustand überwindet und die sozialistische Modernisierung realisiert. Begonnen hat dieses Stadium mit der Gründung der Volksrepublik China und es wird laut Xi mindestens einhundert Jahre andauern.

Die fünf Dimensionen umfassen den Aufbau von Wirtschaft, Politik, Kultur, Gesellschaft und ökologische Zivilisation.

»4. Wir müssen ein tiefes Verständnis für die grundlegenden Anforderungen zur Erringung des neuen Sieges des chinesischen Sozialismus entwickeln.«9

Zu den Anforderungen gehören Gerechtigkeit, gemeinsamer Wohlstand, gesellschaftliche Harmonie, friedliche Entwicklung und die KP Chinas als Führungskern der Sache des chinesischen Sozialismus. »Diese grundlegenden Anforderungen betreffen einerseits die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und andererseits die ökonomische Basis und den Überbau; sie betreffen sowohl die erhabene Sache des chinesischen Sozialismus als auch das neue großartige Projekt des Parteiaufbaus; sie betreffen zugleich auch die einheitliche Planung der jeweiligen Gesamtlage im In- und Ausland.«10

Xi führt dies im Detail aus. Mit Gerechtigkeit ist vor allem ein hocheffektives System zur Sicherstellung sozialer Gerechtigkeit gemeint. Gemeinsamer Wohlstand ist ein elementares Prinzip des chinesischen Sozialismus – die ganze Gesellschaft soll von den Erfolgen der Wirtschaft profitieren. Ein weiterer elementarer Bestandteil des chinesischen Sozialismus ist die gesellschaftliche Harmonie. Darunter versteht Xi Folgendes: »Deshalb müssen wir alle zu einigenden Kräfte vereinigen, harmoniefördernde Faktoren weitestmöglich vermehren, die Kreativität der Gesellschaft stärken, für ein zufriedenes Privat- und Berufsleben des Volks sorgen und geordnete gesellschaftliche Verhältnisse sowie eine dauerhafte Stabilitäät im Staat garantieren.«11 Die friedliche Entwicklung sei, so Xi weiter, für den Sozialismus eine zwingende Wahl. Und schließlich bilde die KP Chinas den Führungskern der Sache des chinesischen Sozialismus. »Deshalb muss die Führung durch die Partei gestärkt und verbessert sowie ihre zentrale Führungsrolle bei der Beherrschung der Gesamtlage und bei der Abstimmung zwischen verschiedenen Seiten zur Geltung gebracht werden.«12

»5. Wir müssen ein tiefes Verständnis dafür entwickeln, dass die Partei stets der harte Führungskern beim Projekt des chinesischen Sozialismus bleiben muss.«13

Hierfür sei eine eiserne Disziplin nötig, denn: »Die Zukunft und das Schicksal einer Partei oder einer Staatsmacht entscheiden sich letztlich dadurch, ob die Bevölkerung sie unterstützt oder nicht. Wenn wir uns vom Volk loslösen und seine Unterstützung verlieren, werden wir letztlich doch scheitern.«14 Deshalb kommt dem Parteiaufbau, der Auswahl der richtigen Kader und dem Kampf gegen die Korruption eine entscheidende Bedeutung zu.

Bei der Lektüre von Xis Reden aus der Zeit kurz nach seiner Wahl zum Generalsekretär der Partei kann man herauslesen, dass die KP Chinas unter seiner Führung sich ehrgeizige, multidimensionale Ziele setzt und diese systematisch und pragmatisch verfolgt. Im Kern geht es um die Verwirklichung des Kommunismus. Das kurzfristige Ziel, das die KP anvisiert, eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand zum hundertjährigen Jubiläum der Partei im Jahr 2021 zu vollenden, hat sie trotz der bedrückenden Corona-Pandemie erreicht. Wir können ihr zutrauen, das nächste Ziel ebenfalls zu erreichen und bis 2049 ein wohlhabendes, mächtiges, demokratisches, zivilisiertes und harmonisches modernes sozialistisches Land zu schaffen. Mir scheint, dass nur die Klimakatastrophe China aufhalten kann. Das ist der chinesischen Führung jedoch bewusst. Kein Land treibt die Energiewende so energisch voran wie die Volksrepublik China.

Kommen wir zurück zu uns. Der Westen hasst China. Die politische Berichterstattung in Deutschland ist ein einziger Kniefall vor den USA. Was für eine Verblendung! Chinas Wiederaufstieg und der chinesische Sozialismus sollten unsere Journalisten und Publizisten faszinieren. Sie sollten uns dieses erfolgreiche sozialistische System näherbringen und ausgiebig erklären. Stattdessen triefen ihre verbitterten Artikel vor neoliberaler Ideologie. Die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt und das größte sozialistische Land der Erde sind für uns Deutsche blinde Flecken. Das einzige, womit man sich in Deutschland in den letzten 50 Jahren beschäftigte, war die Nutzung Chinas als billige Werkbank und die Eroberung des riesigen Absatzmarktes. Alles andere interessierte weder unsere Wirtschaft, noch unsere Politiker und Journalisten. Dies ist nicht nur eine intellektuelle Schande ersten Ranges. Es ist auch fahrlässig, denn von einem Land, das in wenigen Jahrzehnten von einem geschundenen Entwicklungsland zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen ist, können nicht nur Kommunisten etwas lernen.


  1. Xi, Jinping: Xi Jinping: China regieren. Beijing 2014. S. 7 ↩︎

  2. ebd. ↩︎

  3. ebd. ↩︎

  4. ebd. S. 9 ↩︎

  5. ebd. ↩︎

  6. ebd. S. 22 ↩︎

  7. ebd. S. 11 ↩︎

  8. ebd. ↩︎

  9. ebd. S. 11 ↩︎

  10. ebd. S. 16 ↩︎

  11. ebd. S. 15 ↩︎

  12. ebd. ↩︎

  13. ebd. S. 16 ↩︎

  14. ebd. S. 18 ↩︎