Xi lesen: Wertebasierte Außenpolitik

Annalena Baerbock unsere oberste Diplomatin hat den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping ganz undiplomatisch einen Diktator genannt. Dass China von einem kollektiven Gremium, dem ZK der KP Chinas, geführt wird, hat sich entweder zu ihr noch nicht herumgesprochen oder es stört sie bei der Verkündung einfacher Wahrheiten im Stil der AfD.

Zu ihrer Verteidigung sei jedoch gesagt, dass sie einer deutschen Tradition folgt und sie lediglich auf die Spitze treibt. Wenn ein hochrangiger Politiker oder eine hochrangige Politikerin aus Deutschland nach China fährt, verlangen Medien und politischer Gegner von ihm oder ihr, die ›Menschenrechtssituation‹ in China anzusprechen. Der Gast soll also bei seinem Besuch den Gastgeber vor allem für dessen Innenpolitik kritisieren. Die Reaktion Chinas ist immer die gleiche: Das Land verbittet sich jede Einmischung in seine inneren Angelegenheiten.

Zu diesem Ritual gehört, dass wir von unseren Politikern erwarten, dass sie die Achtung der Menschenrechte in aller Welt zu ihrem Anliegen machen. Die aktuelle Außenministerin hat diese Forderung sogar in den strategischen Begriff der »wertebasierten Außenpolitik« gegossen.

Universalitätsanspruch und Pluralismus

Die Forderung, überall auf der Welt die Menschenrechte zum Maßstab der Außenpolitik zu machen, geht auf den Universalitätsanspruch der Menschenrechte zurück. Und dieser wurzelt in der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ von 1948. Er lässt sich vielfältig begründen, aber er steht »in einem Spannungsverhältnis zum kulturellen Pluralismus, und die dominanten Wahrnehmungsformen sowie Geschichtserzählungen der Menschenrechte sind heute immer noch vorwiegend westlich geprägt«, wie der Schweizer Verein humanrights.ch in seinem Philosophischen Konzept der Menschenrechte schreibt.

In seinen außenpolitischen Reden vertritt Xi Jinping vehement diesen Standpunkt des kulturellen Pluralismus, wobei er ihn jedoch nicht explizit gegen die universelle Geltung der Menschenrechte in Stellung bringt. Außenpolitik ist für Xi vor allem eine Sache, die zwischen Staaten erfolgt. In einer Grundsatzrede auf dem 5. Gipfeltreffen der BRICS-Staaten im Jahr 2013, formuliert er dies folgendermaßen:

»Wie sich das internationale Gefüge auch wandeln mag, wir sollten stets an Gleichberechtigung und Demokratie sowie Integration und Toleranz festhalten, das Recht aller Länder auf die selbstständige Wahl ihres Gesellschaftssystems und ihres Entwicklungswegs sowie die vielfältigen Zivilisationen respektieren. Wir sollten alle Länder, unabhängig von ihrer Größe, ihrer Stärke und ihrem Reichtum, als gleichberechtigte Mitglieder der internationalen Gemeinschaft behandeln. Die inneren Angelegenheiten eines Landes sind und bleiben die Sache seines Volks, die internationalen Angelegenheiten sind von allen Ländern durch Konsultationen und Verhandlung zu regeln.« 1

Den gleichen Ton schlägt er drei Jahre später in einer Rede auf der Feier zum 95-jährigen Jubiläum der Gründung der KP Chinas an:

»China besteht auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Länder, egal ob groß oder klein, stark oder schwach, reich oder arm, respektiert das Recht aller Völker auf die selbstständige Wahl ihres Entwicklungswegs und steht für internationale Fairness und Gerechtigkeit ein. China spricht sich entschieden dagegen aus, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen oder Schwache zu gängeln.« 2

Es mag sein, dass diese Grundsätze eine Verteidigungslinie gegen die westliche Einmischung in die inneren Anlegenheiten Chinas darstellen. Doch sie tauchen in seinen Reden so häufig auf, dass sie mehr zu sein scheinen, als eine Abwehr des westlichen Wunsches, die kommunistische Herrschaft in China zu stürzen. Wir haben es hier offensichtlich ebenfalls mit einer wertebasierten Außenpolitik zu tun, nur dass sich die Werte von denen unterscheiden, die wir im Westen gerne vor uns hertragen.

Widersprüche

Die wertebasierte Außenpolitik Deutschlands findet schnell Grenzen. Wenn es um Öl oder neuerdings um grünen Wasserstoff geht, arbeitet Deutschland ohne Hemmungen mit einem Regime zusammen, das wie im Fall Saudi Arabiens systematisch Flüchtlinge an der Grenze erschießen lässt.

China ist ehrlicher. Für China sind die inneren Angelegenheiten eines Landes seine inneren Angelegenheiten. Wenn man mit anderen Ländern zusammenarbeiten will, muss man laut Xi das Verbindende stärken anstatt das Trennende zu betonen. Und China will mit möglichst allen Ländern zusammenarbeiten, allein schon, um die eigenen Entwicklungsziele zu erreichen. Das sehen unsere Unternehmen und unsere Politiker genauso und sie handeln auf internationalen Treffen entsprechend. Was gibt es Verbindenderes als den Handschlag bei der Unterzeichnung von Wirtschaftsverträgen? Die Menschenrechte schaffen es dagegen bestensfalls als Fußnote fürs heimische Publikum in die anschließende Pressekonferenz.

Das Prinzip, die Außen- und Wirtschaftspolitik auf Basis der Menschenrechte zu konzipieren, überzeugt zwar aufgrund ihres Universalitätsanspruchs, aber es hat in der Praxis kaum Geltung.

Das Prinzip der Nichteinmischung ist dagegen so pragmatisch und opportunistisch gedacht, dass es einen schalen Geschmack hinterlässt. In den Reden Xis bereitet das Prinzip der Nichteinmischung deshalb Verständnisschwierigkeiten. Die Menschenrechte, so wie der Westen sie versteht, spielen in den Reden von Xi keine Rolle. Aber die Zufriedenheit des Volkes mit der Arbeit der Partei und der Entwicklung des Landes, das Ziel eines ›schönen Lebens‹ für alle, die gerechte Teilhabe aller am wirtschaftlichen Fortschritt, also vieles, das bei uns im Westen keine Rolle spielt, betont Xi in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder. Während die individuellen Rechte in der Innenpolitik in China als soziale Rechte sehr wohl eine Rolle spielen, haben die individuellen Rechte von Menschen in der Außenpolitik Chinas keine Bedeutung. Außenpolitik ist eine Sache, die zwischen Staaten abgehandelt werden, die alle das Recht haben, ihre Systeme selbst zu wählen und ihren eigenen Entwicklungsweg zu gehen.

Die wertebasierte Außenpolitik Deutschlands ist aporetisch, sie wiederspricht sich selbst im politischen Alltag. Der moralische Anspruch verpufft in der Realpolitik.

Das Prinzip der Nichteinmischung steht im Gegensatz zu einer wertebasierten Außenpolitik, die man böswillig auch als Fortsetzung des Imperialismus mit anderen Mitteln bezeichnen könnte.

Der Verzicht auf einen moralischen Imperialismus, den man böswillig als moralische Indifferenz bezeichnen könnte, wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass die KP Chinas, wie es Xi formuliert, immer von der realen Situation ausgehen soll. Und die Situation ist nun einmal so, dass Staaten untereinander Verträge abschließen und Vereinbarungen treffen. Kein Staat schließt mit den Bürgern eines anderen Staates Vereinbarungen ab. Bestenfalls verpflichten sich Staaten durch internationale Verträge bestimmte Standards einzuhalten.

Die Berufung auf allgemeine Menschenrechte als Richtschnur der Außenpolitik hebt diese kategorische Trennung zwischen der innerstaatlichen und der zwischenstaatlichen Ebene auf. Das führt zu großen Problemen, da Bürger eines Staates, der die Menschenrechte mit Füßen tritt, alle anderen Staaten um Hilfe anrufen können und dies in Form von Appellen an die Weltgemeinschaft auch tun. Aufgrund der strukturellen Widersprüche der Weltgemeinschaft kann diese Weltgemeinschaft aber nie in Erscheinung treten, sodass es immer einzelnen Staaten sind, die in Berufung auf den Universalitätsanspruch der Menschenrechte im Namen der Weltgemeinschaft agieren. Ob Sanktionen und Krieg die richtigen Mittel sind, die Menschenrechte durchzusetzen, sei dahingestellt.

Wenn aber beide Prinzipien, das der Nichteinmischung und das der universellen Menschenrechte, in Aporien führen, sollten wir bei der Bewertung der Prinzipien vorsichtiger sein.

Menschenrechte und der Liberalismus

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte kann aufgrund des Universalitätsanspruchs als Nucleus einer globalen Verfassung verstanden werden, die in Hegelscher Dialektik die Widersprüche der kulturell und historisch bedingten Staatsentwürfe in einem liberalistischen Weltstaat aufhebt. Damit hätte der globalisierte Kapitalismus sich endlich das passende Staatsgebilde geschaffen, in dem er seine volle und ungehinderte Wirkung entfalten kann.

China lehnt diesen Weg kategorisch ab und argumentiert damit, dass gerade die unterschiedlichen Wege, die die einzelnen Staaten gehen, die Welt insgesamt um wertvolle Erfahrungen reicher machen. Die sozialistische Weltrevolution ist suspendiert zugunsten diverser, nicht konvergenter Wege in die Zukunft, was erst ein gegenseitiges Lernen aufgrund unterschiedlicher Entwicklungswege möglich macht. Damit hat China das Prinzip der Nichteinmischung philosophisch fundiert.

Allerdings möchte auch China letztlich, dem Gesetz des Kapitalismus folgend, die eigene Wirtschaftsentwicklung durch globalisierten Handel voranbringen.

Homogenisierte Diversität

Diversität stellt die westliche Sichtweise auf das internationale Geschehen in Frage. Für den Westen darf ein Land zwar islamisch sein, aber es muss ein Islam sein, der mit unserer westlichen Lebensweise kompatibel ist. Diversität toleriert der Westen nur dann, wenn es sich um exotische Geschmacksrichtungen ein- und desselben westlichen Lebensentwurfes handelt.

Der BRICS-Gipfel in Indien hat dem Westen endlich vor Augen geführt, dass er nicht mehr die Generalperspektive auf die Weltinnenpolitik vorgeben kann. Seine ideologische und wirtschaftliche Dominanz ist gebrochen. Ob sich der Universalitätsanspruch der Menschenrechte in der künftigen, multipolaren Welt halten lässt, wird sich zeigen.

Man könnte Annalena Baerbock vorwerfen, dass sie angesichts dieser außenpolitischen Talfahrt das ganz große Besteck herausholt, was weder den Menschenrechten noch unseren Beziehungen zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt förderlich ist.


  1. Xi, Jinping: China regieren. Beijing 2014. S. 398 ↩︎

  2. Xi, Jinping: China regieren II. Beijing 2018. S. 47 ↩︎