Xi lesen: Verantwortung für alles
Ich lese gerade Xi Jinpings Bericht auf dem XIX Parteitag der KP Chinas aus dem Jahr 2017. Der Bericht eines Generalsekretärs auf dem Parteitag der KP ist vergleichbar mit einer Regierungserklärung bei uns. Die Rede ist lang und ich bin froh, dass ich nach der Lektüre seiner kürzeren Reden in Band I und II von “China regieren” den Stil solcher Texte bereits kenne.
Ich will die Rede hier nicht im Einzelnen vorstellen. Dazu ist sie zu lang. Vor allem fehlt uns der Kontext, um ihre Feinheiten, auf die es bekanntlich immer am meisten ankommt, zu verstehen. Wer das oben verlinkte PDF lesen will, kann aber auf Adjektive wie grundlegend, tiefgehend und umfassend achten und darauf, wo sie fehlen. An diesen Adjektiven dürfte der Stand der Umsetzung des jeweiligen Vorhabens abzulesen sein. Einiges ist grundlegend eingeführt, anderes tiefgehend reformiert und wieder anderes umfassend realisiert worden. Bei uns gibt es ähnliche Redewendungen.
Es kann auch hilfreich sein, den Bericht vor dem Hintergrund seiner Gliederung zu lesen. Welche Ressorts tauchen in welchen Abschnitten der Rede auf und welches Politikverständnis lässt sich daraus ablesen?
Was diesen Bericht von westlichen Regierungserklärungen jedoch fundamental unterscheidet, ist die umfassende Verantwortlichkeitsperspektive, die das Denken der chinesischen Kommunisten prägt. Die kommunistische Partei Chinas fühlt sich buchstäblich für alles verantwortlich, was in China passiert. Sie ist für die makroökonomischen Rahmenbedingungen ebenso verantwortlich wie für die moralische Verfassung der Bevölkerung, für ihren pietätvollen Umgang mit Senioren, ihrem harmonischen Zusammenleben im Alltag oder dem persönlichen Engagement des Einzelnen am Arbeitsplatz. Die KP Chinas übernimmt diese Verantwortung nicht nur oberflächlich und formelhaft, sie organisiert und verteilt sie konsequent innerhalb der Partei und der Staatsorgane. Bei uns im Westen wird diese stark ins persönliche Leben eingreifende Gesamtverantwortung gerne skandalisierend auf konkrete Maßnahmen wie das in meinem letzten Text erwähnte Sozialkreditsystem reduziert.
Verantwortlichkeit wird jedoch nicht nur von oben nach unten, also von den staatlichen Makrostrukturen hinunter durch alle staatlichen, regionalen und privaten Organisationen bis zum Einzelnen betont, sondern auch in umfassender Breite. Jedes Ressort, wenn man in Ressorts denken will, hat einen Beitrag zum glücklichen Leben der Chinesen zu leisten. Aufgrund der führenden Rolle, die die KP in China spielt, ist sie tatsächlich für das Glück der Chinesen verantwortlich. Sie nimmt die Verantwortung an und weiß, dass man sie einmal zur Verantwortung ziehen wird. Jedes einzelne Parteimitglied wird in die Pflicht genommen, der Aufgabe gerecht zu werden.
Einer der wichtigsten Aspekte in diesem Zusammenhang ist die Armutsbekämpfung. Xi differenziert die Widersprüche in Chinas, die es zu überwinden gilt; er spricht von den ökonomischen Unterschieden zwischen Ost- und Westchina, zwischen den Regionen, innerhalb der Regionen und in der gesamten Bevölkerung. Die KP Chinas sieht es als ihre Aufgabe an, diese Unterschiede zu verringern, den Wohlstand zwischen Ost- und Westchina, zwischen Stadt und Land und zwischen den ethnischen und sozialen Gruppen in der Bevölkerung zu nivellieren. Das ist bemerkenswert, denn seit Dengs Öffnungspolitik, die die Produktivkräfte Chinas explosionsartig entfesselte und zu einer astronomischen Kapitalakkumulationen führte, die der in den USA in nichts nachsteht, glaubte man den Sozialismus in China dispensiert. Doch dem ist nicht so. Anders als bei uns, betrachtet man in China das Wohlstandsgefälle nicht als gerechtes Urteil der unsichtbaren Hand des Marktes; es ist für die KP eine zwar notwendige, aber dennoch zu überwindende Etappe auf dem Weg zum Sozialismus.
In ihrem ganzheitlichen Regierungsverständnis verbindet die KP Chinas klassisch konservatives Denken mit fortschrittlicher Wissenschaft und einer sozialen Utopie, die im Westen höchstens als Sozialromantik weiterlebt. Die KP insistiert auf dem Marxismus einerseits, aber auch auf der 5000-jährigen chinesischen Zivilisation. Sie hält persönliche und familiäre Tugenden hoch, wie Fleiß und Ehrlichkeit oder den pietätvollen Umgang mit Senioren. Sie sucht wie Xi es ausdrückt, immer den größten gemeinsamen Nenner, um die Einheit des Landes zu gewährleisten. Im Westen sind die linken Parteien davon weit entfernt.
Für eine ganzheitliche Politik ist ein übergeordnetes Ziel erforderlich, das die Richtung vorgibt. Dies kann der Sozialismus chinesischer Prägung oder das ökologische Überleben der Menschheit sein. Wenn das Ziel feststeht, lässt sich der Weg dorthin wissenschaftlich bestimmen. Dies gilt nicht nur für den Sozialismus, wie der neue Bericht an den Club of Rome beweist, der einen konkreteren und wirkungsvolleren Fahrplan fürs Überleben enthält, als alle Programme grüner Parteien.
Dem Westen fehlt das übergeordnete Ziel keineswegs, es ist bloß das falsche. Seit rund 50 Jahren gestalten die neoliberalen Demokratien die Gesellschaften fundamental um. Sie verwirklichen die neoliberale Ideologie konsequent in allen Bereichen des Lebens. Die Gesetze des Marktes, vor allem die uneingeschränkte Kapitalakkumulation, wurden so umfassend bis hinunter ins Selbstverständnis des Einzelnen durchgesetzt, dass das Individuum seine Erniedrigung als Selbsthass verinnerlicht und diejenigen freiwillig wählt, die öffentlich verkünden, ihm am meisten schaden zu wollen.
Die KP Chinas hat ein anderes Ziel. Sie nutzt die Marktkräfte zur effizienten Ressourcenallokation, um die Produktivkräfte der chinesischen Gesellschaft schnell zu entfesseln und bescheidenen Wohlstand zu schaffen. Sie ist damit so erfolgreich, dass sie dem Markt von Jahr zu Jahr festere Zügel anlegen muss, um auch wirklich den Wohlstand des gesamten Volkes zu mehren. Es sind diese humanistischen Zügel des Sozialismus, die in den neoliberalen Thinktanks des Westens Panik auslösen. In China entsteht ein Sozialismus, den es nach der Ideologie des Neoliberalismus gar nicht geben darf: den Sozialismus eines wirtschaftlich starken Landes, in dem alle Menschen vom Fortschritt der Produktivkräfte profitieren und der Wohlstand aller gehoben wird.
Die Botschaft, dass Wohlstand für alle durch Sozialismus möglich ist, darf im Westen natürlich nicht die Runde machen; gerade jetzt, wo die liberale Demokratie die Vernunft endgültig dispensiert hat und überall die Trumps, die Bolsonaros, die Melonis und die Mileis triumphieren; gerade jetzt wo die westliche Linke einem bürgerlichen Individualismus frönend in völliger Bedeutungslosigkeit versunken ist. Es gilt den Gedanken im Keim zu ersticken, dass die KP Chinas das Projekt der Aufklärung, das im 19. Jahrhundert durch Nationalismus einerseits und Raubtierkapitalismus US-amerikanischer Prägung andererseits unterbrochen wurde, erfolgreich wieder aufgenommen hat. Deshalb laufen die Medien Amok gegen China und bedienen jedes antikommunistische Ressentiment in der Bevölkerung.
Die Verblendung wirkt selbst dort noch lange nach, wo sie durchschaut wurde. Der aufgeklärten Rationalität, der ideologischen Festigkeit, der umfassenden Perspektive und der persönlichen Integrität, die uns aus den Reden Xi Jinpings entgegentreten, begegnen wir daher mit dem erworbenen Misstrauen eines im zynischen Neoliberalismus sozialisierten Menschen. Es ist Zeit, sich wenigstens dieser Deformation bewusst zu werden.