Vollständiges Industriesystem
Xi Jinping schlägt in seinen Reden gerne einen großen historischen Bogen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des unsrigen. Was ist in dieser Zeit passiert? Bis ins Jahr 1820 war China eine Exportnation, die einen Handelbilanzüberschuss verbuchen konnte; England dagegen wies im Handel mit China ein Defizit von jährlich 20 Millionen Pfund auf. Um das zu ändern und sich das Land unter den Nagel zu reißen, begann die britische East India Company damit, das chinesische Volk mit Opium zu vergiften. China wehrte sich vergeblich gegen die staatlichen Drogendealer und verlor zwei sogenannte Opiumkriege. Von allen Seiten fielen imperialistische Mächte über das Land her und begannen seine Rohstoffe auszubeuten. Die USA, die das Rennen um einen Claim in China verpasst hatten, forderten eine »Politik der offenen Tür«; sie schlugen ein ›Freihandelsabkommen‹ vor, das allen Mächten den freien Zugang zu China ermöglichen sollte.
Das Land versank in Hunger und Armut. Religiöse Fanatiker wie die Taiping- oder die Nian-Bewegung zettelten Aufstände an, die Millionen Menschen das Leben kosteten. Russland unterstützte islamische und separatistische Aufstände in der Mongolei und Xinjiang. Der erste Japanisch-Chinesische Krieg, der Boxeraufstand und andere Demütigungen ließen schließlich die Qing-Dynastie zusammenbrechen. Das Kaisereich war am Ende. Eine Republik wurde ausgerufen. Politische Wirren, die japanische Besetzung und ein Bürgerkrieg, der erst 1949 mit dem Sieg der Kommunisten endete, stürzten das Land ins Chaos.
China hatte die Industrialisierung verpasst und wurde zum wehrlosen Opfer der Großmächte. Dann übernahmen die Kommunisten das Ruder und machten aus dem geschundenen Land, nach weiteren Wirren, über die Xi Jinping gerne hinweggeht, die weltweit größte Industrienation.
Der Sozialismus chinesischer Prägung ist eine Erfolgsgeschichte. Als die übrige Welt noch mit dem Corona-Virus rang, konnte die KP Chinas verkünden, dass man die absolute Armut zum ersten Mal in der 5000-jährigen Geschichte Chinas besiegt habe und China nun ein Land mit bescheidenem Wohlstand sei. Damit haben die Kommunisten ihr erstes Jahrhundertziel erreicht. Jetzt marschieren sie auf das zweite Jahrhundertziel zu. Bis Mitte des 21. Jahrhunderts soll China ein großes, modernes, sozialistisches Land mit einer zufriedenen Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen sein.
Soviel zum historischen Hintergrund. Wenn der chinesische Staatspräsident die wirtschaftlichen Errungenschaften des Sozialismus zusammenfasst, betont er immer wieder, dass China ein vollständiges Industriesystem besitzt. Ein vollständiges Industriesystem zeichnet sich dadurch aus, dass die Wertschöpfungskette eines Landes von der Rohstoffgewinnung über sämtliche Vorprodukte bis hin zum Endprodukt reicht. China ist heute in der Lage, alle Industrieprodukte bis hin zur digitalen Hochtechnologie autark mit eigenen Mitteln im eigenen Land herzustellen.
Während der Neoliberalismus in Europa und den USA das eigene Produktions-Know-how ins preiswertere Ausland verlegte, entwickelte China ein vollständiges Industriesystem über alle wirtschaftlichen Sektoren hinweg. Das Land nutzte seine Ressourcen, um eine allseitig entwickelte Realwirtschaft von ungeheurer Kraft und Dynamik aufzubauen. Der Westen brachte sein Kapital dagegen lieber ins Casino der spekulativen Finanzderivate.
Die Folgen sind heute überall spürbar. Als die Corona-Pandemie ausbrach, waren Europa und die USA nicht einmal in der Lage, genügend FFP2-Masken zu produzieren. Und anstatt alles daran zu setzen, die notwendigen Produktionskapazitäten schnell zu schaffen, streuten die Spindoktoren der westlichen Versager lieber Zweifel in die Wirksamkeit des Maskentragens. Europa erwachte aus seinem Globalisierungs-Delirium und stellte ernüchtert fest, dass die wirtschaftliche Souveränität im Casino des Finanzkapitalismus verspielt worden war.
Europa hat es dabei besonders schwer getroffen. Denn anders als die USA, die aufgrund ihrer Größe in der Lage sind, ein vollständiges Industriesystem nach und nach zu rekonstruieren und immerhin in der IT noch führend sind, kann sich das in Dutzende Zwergstaaten zersplitterte Europa nicht einmal auf eine gemeinsame Industriepolitik einigen.
In zentralen Zukunftsbereichen wie der IT hat Europa an die Weltspitze nie Anschluss finden können. Führende Industrien wie die europäische Automobilbranche haben sich in den fetten Jahren grundlegenden Innovation verschlossen, sodass sie heute ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben. Nach dem schnellen Tod der Textilindustrie in den 70er Jahren können wir nun das lange Siechtum der europäischen Automobilindustrie live miterleben.
Um sich auf eine düstere Zukunft vorzubereiten, sollte Europa die Geschichte Chinas aus chinesischer Sicht studieren. Die Ironie der Geschichte will es, dass selbst das Opium, mit dem England China einschläferte, als Einweg-Vapes aus dem Reich der Mitte zu uns zurückehrt.