Selbstporträt der Ich-Generation
Gestern sah ich die Dokumentation Die Selfie-Story – Vom Selbstporträt zur Ego-Sucht, die seit August in der ZDF-Mediathek verfügbar ist. Der Film schweift in typischer TV-Manier um das Thema herum. In ziemlicher Beliebigkeit wird eine Fotografin, die sich selbst in künstlerischer Verfremdung fotografiert, neben einen Unternehmer gestellt, der der Selfie-Generation passende Kulissen vermietet.
Sowohl das eine, der Versuch, einen Massentrend künstlerisch zu verarbeiten, als auch das andere, die Vermarktung des Trends, sind typische Phänomene der Kulturindustrie. Man könnte sagen, die Beispiele seien nicht der Rede wert, wenn sie nicht eher unhistorisch auf das Selbstporträt als künstlerisches Sujet der Kunstgeschichte seit der Renaissance projiziert würden.
Der Film vergisst leider, den Fragen nachzugehen, die er aufwirft. Warum scheint sich der Hobby-Fotograf vom Objekt abgewendet zu haben, um nahezu ausschließlich sich selbst abzulichten? Früher sah man Selbstporträts selten: weder Freizeit-Knipser, noch engagierte Hobbyfotografen, und erst recht kein Profi wären auf die Idee gekommen, sich selbst in den Mittelpunkt der Fotografie zu stellen. Den Knipser hätte man völlig verständnislos gefragt, warum er sich dauernd selbst ablichtet. Den engagierten Hobbyfotografen und Profi hätte man bedauert, dass sie offensichtlich kein passendes Modell für ihre Leidenschaft oder Kunst finden. Selbstporträts gab es natürlich auch früher schon, der Selbstauslöser ist seit 100 Jahren Bestandteil jeder Kamera. Häufig wurde er jedoch gar nicht benutzt, denn viele Selbstporträts von Fotografen sind spontane Schüsse in den Spiegel, nicht selten als Ausdruck einer Krise.
Dann schuf der Neoliberalismus die Ich-AG und den digitalen Nomaden. Die atomisierte Gesellschaft fand ihr Motiv, das objektlose, sich selbst abbildende Subjekt. Nicht das Smartphone schuf als technische Innovation die Selfie-Generation. Wirklich bequem ist es nicht, sich selbst damit zu fotografieren. Krückenartige Hilfsmittel sind nötig, damit das objektlose Subjekt sich selbst halbwegs bequem fotografieren kann.
Das Selfie suggeriert eine klassenlose Gesellschaft, in der jeder sich selbst objektivieren kann. Der totale Verlust von Bindung und Zugehörigkeit wird mit dem Gruppen-Selfie kompensiert.
Ein juristisches Detail ist in diesem Zusammenhang interessant. Die Ubiquität abbildender Geräte – vom Smartphone bis zur Überwachungskamera – und die totale Öffentlichkeit durch das Internet haben dem Recht am eigenen Bild plötzlich Brisanz verliehen. Den anderen zu fotografieren, wird justiziabel. Aus dem gesellschaftlich tolerierten Voyeurismus einzelner Streetfotografen wird ein potenzielles Delikt im Zeitalter der Massenfotografie. Sich selbst zum Objekt zu machen, ist der Fluchtpunkt in einer moralisch und juristisch mehr und mehr prekären Situation. Andere zu fotografieren wird gesellschaftlich immer häufiger sanktioniert.
Die Gründe dafür liegen ebenfalls in der Atomisierung der Gesellschaft, in der das Individuum den Anderen schutzlos ausgeliefert ist, weil es dazu gezwungen wird, sich vollständig zu individuieren, um im Wettbewerb der Vereinzelten mithalten zu können. Das Ergebnis ist jedoch eine Gesellschaft aus Individuen, die sich in ihrer demonstrativ zur Schau gestellten Individualität wie ein Atom dem anderen gleichen. Weil kein anderer das Individuum als solches achtet, muss es sich seiner selbst ständig selbst vergewissern – in Hunderten von Selfies.