Wenn der Staat abstirbt
Meine Spanischlehrerin war das letzte Mal im Unterricht mehrfach den Tränen nah; aber nicht weil mit Trump ein misogyner Vergewaltiger, gewissenloser Betrüger und alternder Soziopath erneut den Oberbefehl über das größte Waffenarsenal der Geschichte bekommen hat. Sie litt mit den Menschen in der Region Valencia, die in den Fluten alles verloren haben.
Sie erzählte uns unter anderem die Vorgeschichte zu den Schlammwürfen der Bevölkerung auf Ministerpräsident Pedro Sánchez, Regionalpräsident Carlos Mazón Paiporta sowie König Felipe und Königin Letizia. Die Menge war wütend, weil die staatlich organisierten Hilfsmaßnahmen immer noch nicht richtig angelaufen waren. Dazu muss man wissen, dass Sánchez und Paiporta aus unterschiedlichen Parteien kommen und sich spinnefeind sind. Sánchez habe sich geweigert, den Notstand auszurufen, und Paiporta wollte partout nicht die verhasste Regierung in Madrid um Hilfe bitten. Und so passierte erst einmal nichts. Ob die Geschichte der Wahrheit entspricht, weiß ich nicht, aber in Zeiten des politischen Verfalls ist sie so glaubwürdig wie nur je eine Geschichte sein kann.
Die beiden Politiker gaben dann auch nach den ersten Schlammspritzern auf ihre weißen Westen sofort Fersengeld und machten sich dünne. König und Königin hielten dagegen Stand und gingen auf die Menschen zu. Es kam zu wütenden Beschimpfungen, Rangeleien, aber zum Schluss umarmte man sich.
Während zahllose Menschen aus Valencia und ganz Spanien sich in das Katastrophengebiet aufmachten, um beim Aufräumen mit anzupacken, während sie in Rucksäcken oder mit eigenen Händen Wasserflaschen für die traumatisierte Bevölkerung mitbrachten, zankte sich die politische Klasse, weil jede Seite peinlich genau darauf achtete, dass die andere nicht von der Katastrophe profitieren würde.
Wie im Ahrtal erlebten auch die Menschen in den überfluteten Landstrichen südlich von Valencia die gleiche bedingungslose Hilfe durch ihre Mitmenschen. Das ist die gute Nachricht in dieser schweren Zeit: wir können uns doch noch aufeinander verlassen.
Wenn es uns gelänge, Selbsthilfe und Selbstverantwortung durch eine gute Selbstverwaltung besser zu organisieren und zu institutionalisieren, dann wäre der Staat vermutlich überflüssig. Er würde, wie Marx es ausdrückte, absterben.
Aber eben nicht so, wie wir es in den letzten 50 Jahren erlebt haben! Wer im Neoliberalismus aufgewachsen ist, kennt den Staat bloß als Selbstbedienungsladen der Milliardäre, den die Arbeiter und Angestellten mühsam am Laufen halten müssen. Ich möchte es deshalb anders formulieren. Eine Gemeinschaft mit starker Selbstverwaltung und disziplinierter Selbstverantwortung, die sich selbst helfen kann und von den Reichen Solidarität einfordert: das wäre der Staat, wie wir ihn uns immer gewünscht haben.
Leider sind wir von einem solchen Staat weiter entfernt als je zuvor. Aber wir sind jederzeit in der Lage, einzelne Bereiche unseres Lebens durch kollektives Handeln abzusichern.
Das bewährte, ökonomische Mittel zur Institutionalisierung von Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung sind Genossenschaften. Immer mehr Menschen wollen diesen Weg mitgehen. Wir erleben eine Renaissance der genossenschaftlichen Ökonomie.
Dabei haben es Genossenschaften nicht leicht. Sie verfügen in der Regel nicht wie andere Unternehmen über hochspekulatives Venture-Kapital, das sie in die Lage versetzt, die Medien mit Werbung zu fluten und in kurzer Zeit ein scheinbar attraktives Angebot auf den Markt zu werfen. Sie sammeln stattdessen mühsam Kapital von einzelnen Menschen ein, die ihren Bedarf an Wohnraum, Energie, Lebensmitteln oder IT-Dienstleistungen durch ein gemeinsames Unternehmen decken wollen. In Genossenschaften versammeln sich Menschen, die wirkliche Bedürfnisse befriedigen wollen, und nicht die künstlichen, die Werbung und Marketing anstacheln, um minderwertige oder überflüssige Produkte zu verkaufen, damit Venture-Kapitalisten eine fette Rendite einstreichen können.
Genossenschaften machen es ihren Mitgliedern aber auch nicht leicht, denn Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung erfordern mehr Engagement, als im Supermarkt nach dem erstbesten Sonderangebot zu greifen. Wenn aber so viele Menschen freiwillig einen kilometerlangen Fußmarsch in Kauf nehmen, um den ganzen Tag im stinkenden Schlamm zu schuften, dann mache ich mir keine Sorgen, dass unseren Genossenschaften die engagierten Mitglieder ausgehen.